“Authentizität ist deine Superpower” – im Gespräch mit Kenichi & The Sun

Wer ist denn diese Wahnsinnsfrau? 

Zwischen den 300 Hippies sticht ihr ganzes Wesen geradezu heraus. Eine magnetische Präsenz, freundliches, kluges Lächeln. Türkise Punkte unter der Augen und Basecap über den weißblonden Haaren. Was macht denn so jemand auf einem Achtsamkeits-Festival zum Jahreswechsel? Berlin hat für Frauen* wie sie doch gerade zu Silvester ganz anderes zu bieten. Contact Impro und Ecstatic Dance statt Alkohol und Berghain? Ein Lächeln im Vorbeigehen, dann ist sie weg.

Am Abend warte ich auf den Mainact des Tages: Das Mantra-Konzert von Kenichi & The Sun. Noch ganz erfüllt von der Euphorie und Liebe, die mir in meinem letzten Workshop entgegen geschwappt war, das ganze Herz auf Empfang. Und siehe da: 

Die Wahnsinnsfrau von heute morgen, das ist Kenichi & The Sun, abseits der Bühne Katrin Hahner.

In einer Seelenruhe nimmt sie ihr Kalimba in die Hand und beginnt zu singen. In einer mir unbekannten Sprache. Dann englisch, dann deutsch, dann ich weiß nicht mehr was, ich träume, ich schwebe, ich weiß nicht mehr, wo ich bin. Wer ich bin, was ich bin. Dann sie: „Wir sind da, wir sind hier, du bist wir, wir sind die Tür, die Tür existiert.“

In einer knappen Stunde katapultiert mich Katrins Gesang in Sphären, die ich in keiner noch so rauschhaften Silvesternacht je erlebt habe.

Flüssiges Gold nennt es mein Freund, als ich ihm die Songs vorspiele. Ja, man kann sich geradezu hineinlegen in diese warme Stimme, diesen zeitgenössischen und doch uralten Natur-Elektrosound. Wie in eine moosbewachsene Mulde, der geheimnisvolle Klänge, Düfte und wabernde Rauchschwaden entsteigen.

Wie tickt diese Frau, die aussieht wie eine New Yorker Performance-Künstlerin und Musik macht wie Björk? 

Was bringt eine so coole Persönlichkeit dazu, Mantren zu singen und in ihrem Berliner Studio Kakaozeremonien abzuhalten? Das will ich wissen. Deshalb treffe ich sie zwei Monate später zum Interview. 

Wir sitzen Katrin und ich in ihrer Atelierwohnung in Prenzlauer Berg. Weiße Schafsfelle auf den Dielen, Kunst an den Wänden, zwischen uns ein imposanter Bergkristall. „Ich war gelangweilt von mir selbst“, beginnt Katrin. „Als Musikerin dachte ich, ich hätte mein Instrument, die Gitarre, einfach ausgespielt.“ Drei schöne, traurige Alben, aber nichts Neues mehr hinzuzufügen. Eigentlich wollte sie aufhören mit der Musik. „Da hab ich mir den Pleasure Workshop verordnet. Aber nicht pleasure just for fun, sondern Musikmachen mit strikten Regeln.”

So funktioniert Katrins Pleasure Workshop:

  • Überrasche dich selbst immer wieder aufs Neue!
  • Wenn du merkst, dass du verkrampfst, dich langweilst und nur das alte Programm abspulst, höre sofort mit dem Musikmachen auf!
  • Wenn du glaubst, jetzt zu wissen, wie es weitergehen soll: Tu das Bescheuerste, das dir gerade einfällt! 

„Hahahaha“. So hell wie Katrin jetzt über sich selbst lacht, lacht sie auch in ihrem Song Jeanne über ihre eigene Musik. „Da dachte ich wirklich kurz, ich hätte etwas verstanden. Und musste ich einfach laut über mich selbst lachen.“ Das nahm sie auf und am Ende gibt die gesampelte Lach-Kaskade dem Track erst den richtigen Kick, als wäre der Haha“-Rhythmus kalkuliert reinkomponiert. Und das ist er ja auch.

Das sei ja das Absurde: „Je mehr ich von der Idee, etwas zu können oder zu wissen, losgelassen habe, desto mehr Können und Wissen sprudelte aus mir heraus. Und alles, was ich so bin und tue, floss ineinander.“ Auf den selbst verordneten pleasure walks, wenn es mit der Musik „zu gut“ lief, kamen ihr plötzlich Lösungen für Gemälde, in denen sie feststeckte. Beim Malen hüpfte ihr plötzlich eine Songzeile ins Hirn. 

Auch in der Zusammenarbeit mit anderen Profi-Musikern überließ sie der Intuition immer mehr die Führung. Sie produzierte das Album über drei Jahre in verschiedenen Studios, programmiert und spielt viele der Instrumente selbst, lädt dann aber zuletzt Instrumentalisten ein, über ihre Stücke zu improvisieren. „Es war das Loslassen vom Ego, das mich immer mehr zu mir selbst und in die Kraft geführt hat“, erzählt sie – noch immer etwas ungläubig.

Und so wurde aus Miss Kenichi schließlich Kenichi & The Sun. 

Kenichi heißt eine Nebenfigur aus Robotic Angel, der Manga-Version von Fritz Langs Film Metropolis, ein Junge, der ein künstlich erschaffenes Mädchen rettet und ihr hilft, menschlicher zu werden. Jetzt, wo Katrins eigene Person mehr in den Hintergrund gerückt ist, ist sie auf der Bühne eine Figur, die nicht allein, sondern nur im Zusammensein, in Gemeinschaft existiert, in diesem Fall mit der Sonne.

Das neue Strahlen, der pleasure workshop, dieses sich-öffnen und Fließenlassen kam natürlich nicht über Nacht. 

Als Kopfentscheidung für eine neue Kreativitätsmethode, weil die andere versagt hatte. Seit Jahren übt Katrin regelmäßig Kundalini-Yoga in einem Studio um die Ecke, während einer schamanischen Zeremonie hatte sie eine Out of Body Erfahrung. Und als eine Freundin auf Island ihr rohen Kakao zu trinken gab, da spürte Katrin das erste mal diesen Shift: „Die krasse Verbindung unserer drei Gehirne: Hirn, Herz, guts. Mama Kakao begleitet mich seitdem jeden Tag.“

Katrins spirituelle Transformation ging einher mit einer klaren Entscheidung für einen nüchternen Lifestyle: Kein Alkohol, keine Drogen, keinen bullshit mehr. „Je länger ich das durchzog, desto klarer wurde alles. Und irgendwann hatte ich mein Gehirn wieder. Und damit auch all die Superkräfte, die ich sowieso in mir habe.“

Magische Kräfte wie der japanische Manga-Held Kenichi, hat jede*r. 

Und Katrins magic power ist neben ihrer Kreativität vor allem die Fähigkeit, Menschen zusammen zu bringen und tiefe Verbundenheit zu stiften. So wie auf ihren Konzerten, während ihrer Kreativ-Workshops und Kakaozeremonien. Jetzt, in Zeiten von Corona, gelingt ihr das sogar online. 

Wie viel Kraft eine virtuelle Gemeinschaft erzeugen kann, wenn man sich authentisch zeigt, hat sie während der Crowdfunding-Kampagne für ihr neues Album gelernt. „Da ging es gar nicht anders, als ehrlich zu sein“, erzählt sie. „Ich wollte mich hinter nichts verstecken und es war eine geniale Gelegenheit, alle verschiedenen Aspekte zusammenzuführen und zu zeigen.” Im echten Leben, aber auch online und live und in Farbe. 

Gar nicht so einfach, authentisch zu sein, wenn man sein halbes Leben mit verschiedenen Identitäten „gespielt“ hat. 

An der Schauspielschule, in der coolen Kunstwelt, der Musikszene. Die Journalist*innen, die sich bei Interviews über ihr strahlendes Wesen und die bunten Klamotten wunderten, fragten: „Warum singst Du nur so dunkle, traurige Songs?“ Die Maske, die ich mir überzog.“ Ihre spirituelle Seite zu zeigen, kam ihr in diesen Kreisen und auf der Bühne einfach unpassend vor. „Ich habe nie etwas vorgespielt, ich hab immer nur alles mögliche weggelassen.“

Aber irgendwann konnte auch die schönste Emo-Maske die Superkraft dahinter nicht mehr verbergen. Es war auf der Fuck the Fear-Tour, wie Katrin sie für sich selbst nannte, als sie in einem Club in Dresden ganz allein auf der Bühne stand. Nur die Gitarre in der Hand und kein Schwein im Publikum. „Ich hab einfach die Augen geschlossen und ganz monoton, wie ein Gebet ‚A Deeper Well’ von Emmylou Harris vor mich hingesungen.“

“I went to the river but the river was dry / I fell to my knees, and I looked to the sky / I looked to the sky, and the spring rain fell /I saw the water from a deeper well.”  – Emmylou Harris

Immer wieder die gleichen Zeilen, immer wieder von vorne. Als sie die Augen wieder aufmachte, war der Saal knallvoll und sogar der Barkeeper mucksmäuschenstill. „Da hab ich das erste mal die magische Wirkung von Mantra erfahren. Auch wenn ich kein Gurmukhi, sondern die Lyrics einer amerikanischen Rocksängerin gesungen habe.“

Seitdem nutzt sie spirituelle Praktiken auch ganz bewusst für ihre Musik und die künstlerische Arbeit. 

Das Motiv für ihre neue Siebdruck-Serie hat sie im Traum „empfangen“. Auch wenn ihr das immer noch schwer über die Lippen kommt. Egal, wie das in den Ohren zynischer Kritiker*innen klingen mag: Spiritualität befeuert die Kreativität. Und authentisch zu sich zu stehen, sei auch eine Superpower, findet Katrin.

Was ist Spiritualität?

Für eine smarte Künstlerin wie Katrin, die sich mit queerer Theorie und feministischen Cyberborgs auskennt und statt Kundalini-Turban lieber Basecap trägt? Ist das Kakao-Ritual für sie nur eine Performance, etwas Vorgespieltes, das sie als ausgebildete Schauspielerin perfekt beherrscht? „Natürlich ist es eine Performance, aber das heißt nicht, dass nicht wahrhaftig ist, was auf der Bühne passiert oder wenn wir im Kreis sitzen und gemeinsam rituell Kakao in uns aufnehmen. Die Intention macht es zu Wahrheit oder zu Täuschung.”

Katrin glaubt fest an die Wirkung von Ritualen, die Kraft der Stimme und die isländischen Kräuteressenzen, die sie für ihre Zeremonien in den Kakao mischt. „Und trotzdem finde ich es wichtig, gleichzeitig zu sehen, wie das Kostüm hinten zusammengenäht ist, wenn die Schauspielerin sich umdreht.“ Auch die Schamanin im tiefsten Dschungel sei doch mit dem Göttlichen verbunden und Frau mit Hirn, Haut und Haaren.

„Spiritualität ist nicht mehr und nicht weniger als die Mechanics of Life“, erklärt Katrin. Eine Generalüberholung des eigenen Motors. Man greift in die Mechanik rein, tauscht Teile aus, holt den Dreck raus und ölt, damit das Innere wieder wie geschmiert läuft. Das bedeutet weder, das Gehirn auszuschalten, noch, alles zu zerdenken. Man braucht nicht unbedingt Judith Butler gelesen zu haben oder all die Zen-Weisheiten und das Yogasutra, um die tiefe Wahrheit dahinter zu erfahren. 

Man kann das Sandkorn auch einfach als Sandkorn sehen. Wissend, dass in ihm die ganze Welt enthalten ist.

Genau so ist es mit Katrins Album: Es enthält das ganze Universum der weiblichen Kraft – den Schmerz, die Trauer, die Machtlosigkeit, die Vergänglichkeit, die innere Reise, die Verbundenheit, das Vertrauen, die transformative Kraft der Kali und die Superpower eines feministischen Phönix aus der Asche. Aber es ist auch einfach wunderschöner Avantgarde-Elektro-Pop, der eine wärmende Botschaft aus der Erde schickt. Flüssiges Gold eben.

Danke Katrin für das anregende Gespräch. Du drückst dich zuhause immer noch vor der Umsetzung deiner eigenen kreativen Projekte?

Hier kommen Katrins Tipps, wie zeitgemäße Spiritualität deine Kreativität befeuern kann:

  • Nähre die Freude, nicht den Widerstand!
  • Dein Körper, besonders dein Herz, weiß oft mehr als dein Verstand! Deshalb bewege dich, schüttel dich, üb Kundalini-Yoga
  • Mach den pleasure workshop, spiele und überrasche dich selbst!  Flow ist da, wo Freude ist
  • Traue dich, du selbst zu sein, denn Authentizität ist deine Superpower!

Titelbild ©  Ivana Rubelj

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