Schweigen am Lotusteich: Eine Woche im Zen-Kloster mit meinem Vater

Es war das Meditationskissen, das unsere Familie zerstörte. 

So jedenfalls verstand ich meine Mutter, wenn sie erklärte, warum sie meinen Vater verlassen hatte, als ich zwei und meine Schwester ein Jahr alt waren: „Während ich arbeitete und du weintest, saß dieser Mann auf seinem Kissen und schwieg.“

36 Jahre später fahre ich in einem absurd herunter gekühlten Regionalzug durch den Südwesten Frankreichs, um genau das zu tun: auf einem Kissen sitzen und schweigen. Seit vier Jahren nehme ich mindestens einmal im Jahr diesen Zug. Ich kenne den Brummbär, der mir Café und Croissants aus seinem Imbisswagen reicht, wenn ich in Bordeaux-Saint Jean einsteige. Ich kenne die vorbeiziehenden Dörfer, deren reale Erscheinung so gar nicht der Extravaganz ihrer Namen auf teuren Weinflaschen entspricht: Saint-Émilion, Sauternes, Château Margaux. 

Ich kenne die Unruhe des langsamen Reisens, die erst nachlässt, wenn auf dem grasüberwucherten Bahnsteig von Ste Foy la Grande eine kleine Gruppe vietnamesischer Nonnen und Freiwilliger auftaucht. 

Plum Village, das buddhistische Zentrum von Zen-Meister Thich Nhat Hanh in Frankreich, ist nah.

Schweigen am Lotusteich: Eine Woche im Zen-Kloster mit meinem Vater 4

Plum Village ist für mich nicht nur ein idyllischer Ort in der französischen Provinz, in dem ich Urlaub mache und nebenbei ein bisschen meditiere. Als ich das erste Mal kam, hatte ich das Gefühl, die ganze Welt, die mir etwas bedeutete, sei auseinander gebrochen. Jahre des Kämpfens hatten mir alle Zuversicht genommen. Mir blieb nichts mehr übrig, als mich auf ein Kissen zu sitzen und zu schweigen. Wie mein Vater damals, als ich klein war.

Die Zeit im Kloster war meine Rettung. Ich bekam Abstand zum Schreiben, zur Literatur, zur Kunstwelt, zum Journalismus, zu all den Dingen und Menschen, von denen ich dachte, sie wären das Wichtigste auf der Welt, von denen ich dachte, sie entschieden über ich mich, meinen Wert, meine Karriere und damit über mein Überleben in dieser Welt.

Die Meditation, die Natur, das gute Essen haben mich beruhigt. Die Begegnungen mit den sanften, fröhlichen Nonnen und Mönchen, der Austausch mit gleichgesinnten Menschen aus der ganzen Welt gaben mir Hoffnung. Ich genoß das gemeinsame Lachen, Singen, Kochen, Volleyball spielen und Putzen. Ich spürte wieder diese Leichtigkeit, die ich aus der Kindheit kannte. Ich sammelte wieder Mut. Plum Village wurde mein spirituelles Zuhause. Immer, wenn ich denke, es geht nicht mehr, fahre ich hin. 

Aber diesmal ist alles anders. Diesmal habe ich meinen Vater mitgebracht. 

Zum 70. Geburtstag habe ich ihm die Reise nach Plum Village geschenkt. Aber ist es wirklich eine gute Idee, meinen Vater dorthin mitzunehmen? Er war zu Tränen gerührt, als er das Flugticket in den Händen hielt. Aber jetzt wie er hier im Zug neben mir sitzt in seiner blauen, viel zu warmen Funktionsjacke, bin mir nicht mehr sicher. 

Die ganzen neunzig Minuten, die wir nun schon durch die Weinberge zuckeln, hat er die Hand auf seinem riesigen Koffer liegen. Leichtes Gepäck und Reisen außerhalb Deutschlands sind nicht so sein Ding. Er mag sein gewohntes Umfeld in der Kleinstadt, will immer auf alles vorbereitet sein. Gummistiefel, drei Taschenlampen und einen imposanten Frotteebademantel hat er für die eine Woche eingepackt. 

Bei der Sicherheitskontrolle am Flughafen Berlin-Schönefeld hatten sie seinen Reisebuddha aus dem Handgepäck gefischt. Locker hätte man damit den Piloten erschlagen können. Aber so umständlich wie mein Vater das gar nicht so kleine Bronzeding aus dem Samtbeutelchen schälte, winkte ihn der Sicherheitsmann irgendwann mit einem Kopfschütteln durch.

Und dann: Flug gestrichen. Dreißig Minuten reichte mein hart antrainierter Gleichmut. 

Ich wurde nervös, lief alle fünf Minuten zum „Service“-Schalter, um dort zu hören, dass keiner was weiß. Ich ärgerte mich über den wässrigen Mc-Donald’s-Kaffee, den mein Vater mir besorgt hatte, über die Unfreundlichkeit des Bodenpersonals, über die Unfähigkeit der Berliner, der Deutschen generell, einen der Größe der Hauptstadt angemessenen Flughafen zu bauen. Ich versuchte unsere Züge durch Frankreich umzubuchen, das Airbnb für die erste Nacht in Toulouse zu stornieren. Mit dem Handy in der Hand lief ich wie eine Tigerin im Kreis.

Mein Vater derweil: Saß in aller Seelenruhe auf seinem Plastikstuhl und biss in ein Marzipan-Croissant. Ich merkte, wie Ärger in mir hochstieg. Aha! Vielleicht war es das, was meine Mutter damals so auf die Palme gebracht hatte, als mein Vater auf seinem Kissen saß, während die Kinder weinten: Sie interpretierte sein Verhalten als unangebrachte Passivität, ein sich anstandslos den Umständen Fügen, Schulterzucken, ohne Verantwortung für das eigene Schicksal zu übernehmen. Sehe ich meinen Vater durch ihre Brille? Ist er wirklich ein Mensch, der sich lieber zurücklehnt als aktiv zu werden? Oder bin ich zu fordernd mit den Menschen um mich herum, nur weil ich von mir selbst immer viel verlange?

Durchsage: Passagiere nach Toulouse bitte sofort zum Boarding. Flug doch nicht gestrichen. Mein Vater lächelt und reicht mir den Rest seines Croissants. „Siehst du, alle Aufregung umsonst. Wir fliegen ins Achtsamkeitskloster, meine Tochter! Das hier war die erste Lektion.“ – „Touché, Papa!“

Unser erstes gemeinsames Selfie in Plum Village zeigt uns mit müden, aber glücklichen Augen im Frühlingsgarten von New Hamlet. 

Schweigen am Lotusteich: Eine Woche im Zen-Kloster mit meinem Vater

Wir waren um halb fünf aufgestanden, hatten Tee getrunken, Chi Gong im feuchten Gras gemacht, eine halbe Stunde meditiert, gesungen, Pflaumen-Porridge gefrühstückt und mit ein paar anderen den Abwasch von 200 Leuten gemacht. Im Bus zum Männerkloster, wo alle Retreat-Teilnehmer*innen aus den umliegenden Häusern zusammenkommen, waren mir die Augen zugefallen. 

„Ich bin angekommen. Ich bin zu Hause“ lautet ein Mantra, das in Plum Village überall auf kleinen Schildern, Tafeln und Steinen steht. Es wird gesungen und kommt in fast jedem spirituellen Vortrag vor. Und wirklich: Plum Village war der Ort, an dem ich genau dieses Gefühl hatte. Zum ersten Mal in meinem Leben. Mit 36 Jahren.

Stolz führe ich meinen Vater herum. Der Glockenturm, auf dessen Treppen ich vor zwei Jahren meine heute beste Freundin, eine Menschenrechtsanwältin aus Neuseeland, kennenlernte. Den zur Meditationshalle umgebauten Schafstall, in dem ich unter den gütigen Augen des Buddha heimlich Mittagsschläfchen machte. 

Ich stelle ihn meinen Freunden aus Berlin vor, die zufällig auch hier sind. Unter den Maulbeerbäumen entspinnt sich ein Gespräch über die verschiedenen Traditionslinien des Zen. Mein Vater erzählt, wie ein Jesuiten-Pater ihn vor bald 50 Jahren zum strengen japanischen Zen gebracht habe, und dass er heute mit einer ehemaligen evangelischen Pastorin meditiere, die in Norddeutschland eine große buddhistische Gemeinschaft aufgebaut habe. Benjamin, ehemaliger DJ und Martial Arts Kämpfer, der in Berlin Meditation und achtsame Kommunikation unterrichtet, hört zu. Ich lasse die beiden reden und hole mir einen Tee.

Am Nachmittag findet die erste Sharing Meditation statt. 

Ein spiritueller Sitzkreis, in dem wir uns über die Freuden und Schwierigkeiten der Meditation und des „echten“ Lebens austauschen. Die wenigen deutschen Teilnehmer*innen finden sich in dem Rund aus Baumstümpfen zusammen, in dessen Mitte abends manchmal ein Lagerfeuer brennt. Ich bin etwas enttäuscht, wollte ich meinem Vater doch zeigen, wie international diese Gemeinschaft ist. Wie zu Hause ich mich in der Welt fühle. Aber er bleibt mit seinem eingerosteten Englisch dann eher stumm. Also sitzen wir bei den Deutschsprechenden.

Vorstellungsrunde: „Was verbindet Euch mit unserer Muttersprache, mit unserem Vaterland?“ Ernsthaft? Mein Vater und ich, Sohn und Enkelin von deutschen Wehrmachts-Offizieren, sollen im Land des früheren Erzfeindes Nationalstolz ausbreiten? Ich verzichte auf ein Hurra auf Pünktlichkeit und Ordnung und erzähle von meinem stolprigen Weg zur Meditation: 

„Seit ich lesen kann, schenkt mein Vater mir Glücksbücher. Ratgeber und Selbsthilfeschinken über die Liebe und das Leben, über Langsamkeit und Meditation und Yoga. Bücher, die ich jedes Mal mit einem Augenrollen zu den anderen ins Regal gestellt hatte. Ungelesen. Auch weil meine Mutter sich darüber lustig machte und ich auf keinen Fall stumm und untätig auf einem Kissen enden wollte. 

Lange Zeit ging das so. Bis ich Jahre später mit einer langen Lektüreliste von meiner Yogalehrerausbildung zurückkam. Die Bücher, die ich jetzt unbedingt lesen wollte: Sie standen alle schon in meinem Regal. Mein Vater hatte mir das weitergegeben, was ihm in einsamen Zeiten geholfen hatte. Er hatte die Samen gesät, sie gewässert, ohne zu erwarten, dass tatsächlich irgendwann eine fruchttragende Pflanze daraus erwächst. Und jetzt sitze ich hier mit euch in Plum Village bei der Sharing-Meditation. Und neben mir sitzt mein Vater! Ein Kreis schließt sich.“

Neben mir Naseputzen. Ich schaue in die Runde. Vielen laufen Tränen über die Wangen. Auch meinem Vater. Ich bin betroffen. So oft habe ich diese Geschichte schon erzählt, dass sie sich fast automatisch abschnurrt. Dass es eigentlich eine wahnsinnig traurige Geschichte mit überraschend gutem Ende ist, vergesse ich dabei fast. Manchmal habe ich eine merkwürdige Abwehr gegen Sentimentalitäten, gegen zu viel Glück. Als dürfe ich nicht in Harmonie mit meiner Familie und mir selbst sein. Nicht zu viel strahlen, damit die anderen nicht geblendet werden, sich klein fühlen und Abstand nehmen. 

Als wir zurück zu unserer Hütte kommen, nehme ich meinen Vater in den Arm. 

Ich bin so froh, dass er mitgekommen ist. Auch wenn ich mein Glück nicht immer uneingeschränkt ertragen kann. Über seine Schulter schaue ich in die Welt, wie sie sich mir gerade zeigt: Die Sonne scheint über dem Lotusteich, die Pflaumenbäume blühen, und der Kuckkuck, von dem die Nonnen sagen, sein Ruf erinnere sie an ihren Meister in Vietnam, sitzt im Pappelwald vor unserer Hütte.

Nach dem Abendessen kommt eine Dame im Rollstuhl zu mir. Eine in Zürich lebende Psychotherapeutin. Sie war mir schon in der Sharing-Meditation aufgefallen mit ihren blitzenden Augen und der scharfen Anspielung auf Weltkrieg und Holocaust: „Da war doch was, oder?“ „Eine schöne Geschichte hast du uns da erzählt“, sagt sie. „Danke”, antworte ich.  „Schöne Performance mit emotionaler Pointe am Schluss, oder? Gruppentherapie funktioniert wie die Beichte. Ich weiß, wie man diese Rituale inszeniert. Ich war jahrelang Messdienerin und liebe deutsches Regietheater.” Hashtag #Closingcircle. And being damn proud of it.

Die Rollstuhlfahrerin mustert mich. Dann legt sie ihre Hand auf meine Regenjacke. „Sarah, du darfst stolz darauf sein, dass du deinen Vater hier hin eingeladen hast. Das ist ein Geschenk für euch beide. Ein Geschenk fürs Leben. Du musst das nicht rührselig finden und mit deiner gut trainierten Ironie wieder in Stücke reißen. Dafür hatten wir Heine.“ 

Ich muss lachen. Und gleichzeitig laufen mir die Tränen übers Gesicht. Auch das ist Zuhause ankommen. Masken ablegen dürfen. Und Menschen treffen, die mich verstehen und die Heine kennen. Meinen zwiespältigen literarischen Helden mit seiner romantische Ironie, der genau wie ich Frankreich mehr liebte als seine deutsche Heimat.

Die nächsten Tage verlaufen ruhig und friedlich. Ich grabe in der Erde der „Happy Farm“, dem Permakultur-Experiment des Klosters, mein Vater und ich machen lange Spaziergänge wie früher im Schwarzwald und an der Ostsee, nur jetzt mit den gelben Westen, die im ländlichen Frankreich eine merkwürdige Berühmtheit erlangt haben. Wie früher schlägt mein Vater mich im Tischtennis und steht am Spielfeldrand, wenn ich mit den Nonnen Volleyball spiele. Er fotografiert mich inmitten steinerner Buddhafiguren – wie früher mit der neusten Kamera – und noch immer bin ich latent genervt, wenn mein Vater etwas tut, das ich früher extrem peinlich gefunden hätte.

Und dann knallt es doch noch. Ausgerechnet am Lazy Day

Das ist der eine Tag in der Woche, in dem wir ermutigt werden, bewusst nichts zu tun. Keine Meditation, keine Vorträge, keine Pläne. Nicht mal ein Buch lesen. Am Faulenzertag kann Achtsamkeit auch heißen, einfach nur in der Hängematte zu liegen. Nach dem Frühstück merke ich, wie mein Vater unruhig wird: „Ich bin doch nicht hunderte Kilometer weit in ein Zen-Kloster gereist, um dann hier in der Hängematte zu liegen! Ich setze mich jetzt in den Pappelwald und meditiere für zwei Stunden.“ 

„Zazen“ heißt in der Tradition, in der mein Vater praktiziert: Von morgens um sechs bis abends um zehn auf dem Kissen sitzen. Am besten im Lotussitz und am allerbesten mit dem Gesicht zur Wand. Sitzen und schweigen bis die Glieder schmerzen und das Rückgrat zu brechen scheint. Dann gibt die strenge Meisterin auf Wunsch Stockschläge auf den Rücken, was die Muskeln lockern soll. Schon merkwürdig, dass mein Vater, der Sanfte, diese harte Disziplin suchte. Und dass meine Mutter die Strenge, diese Praxis als „Verweichlichung“ angesehen hatte.

Genau diese Tortur war der Grund, warum ich vor Zen immer zurückgeschreckt war: 

Von Disziplin und Gehorsam in einer geradezu militärisch organisierten Struktur hatte ich genug gehabt in meinem Leben: katholische Kirche, Jesuiten, eine strenge, elitäre Erziehung, deren mentale Peitsche ich irgendwann selbst in die Hand genommen hatte. Wie wohltuend war da das „Einfach Sein“ von Plum Village. 

Für meinen Vater ist die sanfte Praxis nach Thich Nhat Hanh also nur „Zen light“? Soll er doch alleine im Pappelwald sitzen bis ihm Beine abfallen! Ich mache derweil am Lotusteich ein paar Sonnengrüße und lege mich danach zwischen die Pflaumenbäume. Der Kuckuck ruft. Als ich Stunden später zu unserer Hütte zurückkehre, traue ich meinen Augen kaum. Mein Vater liegt in der Hängematte. Die Plastik-Crocs achtlos im feuchten Gras abgestreift. „Willst’n Tee, Tochter?“ Wir trinken und schweigen und lassen den Dampf aus der Thermoskanne steigen.

In der Nacht tappe ich in eine alte Falle. Meine Gedanken kreisen, ich kann nicht schlafen. Ich schalte das Handy an und bin plötzlich wieder in Berlin. Beim Job, den ich längst hatte kündigen wollen, dem Essay, für den die Kollegin letztens wieder einen Preis bekommen hat, dem Roman, der immer noch halbfertig auf der Festplatte liegt, meinem Workshop, der noch längst nicht ausgebucht ist und bei der Miete, die trotz allem irgendwie bezahlt werden muss. Stundenlang scrolle ich mich durch die digitalen Bilderwelten, als würde im perfekten Handstand von @yogagirl die Lösung liegen.

„Komm, mach das Ding aus. Das macht es doch nur noch schlimmer“, brummt mein Vater. „Ja, hast ja Recht.“ Nur noch kurz checken, wieviele Follower @yogagirl hat #yogaporn #mindfuck #fomo. Als ich in der Morgendämmerung doch noch wegdrifte, träume ich von Yogawettbewerben auf Bali. Operierte Cheerleader stehen auf dem Siegertreppchen und lachen mich aus. 

Am nächsten Morgen schwänze ich die Meditation. Und das Frühstück. Und das gemeinsame Abwaschen. 

Und den Vortrag über die Kraft des achtsamen Gehens. Als ich mit Kopfschmerzen aufwache, steht eine Schale Pflaumen-Porridge auf meinem Nachtisch. Mein Vater schnarcht im Nachbarbett. Auf seiner Brust der schmale Osho-Band, den ich ihm für den Flug geschenkt hatte: „Mojud. Der Mann mit dem unerklärlichen Leben.“ Ok, dann ist heute eben unserer privater „Lazy Day“. Selbstgewählt fällt das Nichtstun immer leichter.

Der Teich vor unserer Hütte liegt im Nebel. Dass das Wasser im Sommer mit wunderschönen Lotusblüten bedeckt ist, lässt sich jetzt nicht mal erahnen. Die Wurzeln modern noch im schlammigen Grund. „No mud, no lotus!“ ist eines der wichtigsten Mantren von Plum Village. 

Tatsächlich steckte Meister Thich Nhat Hanh selbst im tiefsten Morast, den man sich nur denken kann. 

Während des Vietnamkriegs führte er eine friedliche Revolution gegen seine Regierung an, marschierte Arm in Arm mit Martin Luther King für den Frieden und wurde dafür aus seiner Heimat verbannt. Fast vierzig Jahre lebte er im französischen Exil. Und doch ist er der sanfteste, verzeihendste Mensch, den ich je gesehen habe. Für ihn ist der Schlamm, in dem wir manchmal festzustecken scheinen, der Humus aus dem ein erfülltes Leben erwächst. 

Wie die Lotusblüte kannst du dein Leben nicht zwingen zu erblühen. 

Du kannst nur die Samen säen, gießen, pflegen und warten. Derweil kannst du meditieren oder in der Hängematte liegen und Osho-Bücher lesen. Alles kostbare Momente, die nicht wiederkehren. Also genieße sie.

Mein Vater wusste das schon vor 36 Jahren. Sitzen und „Nichtstun“ war sein Weg, mit einer überfordernden Lebenssituation klarzukommen. Wahrscheinlich brauchte er diese Pausen, um präsent für uns Kinder und seine Frau zu sein. Für meine Mutter war das schwer zu verstehen. Klar, wenn beide Kinder gleichzeitig weinen und die Milch auf dem Herd anbrennt. Natürlich war es nicht das Sitzkissen, das unsere Familie zerstört hat. Die Trennung war eine Abzweigung auf den schlammigen Wegen des Lebens. Vom Ende her gesehen ergibt das vielleicht Sinn. Aber wenn wir mittendrin stecken, erscheint es uns so unerklärlich wie die Sufi-Geschichte, die Osho in seinem Buch erzählt.

Aus den Augenwinkeln sehe ich meinen Vater atmen. Mir läuft eine Träne über die Wange. „Jetzt nur nicht rührselig werden!“ Ich nehme das Buch zur Hand, das er mir vor zehn Jahren geschenkt hatte, als ich den Eindruck hatte, selbst im Schlamm zu versinken. Erst letztens habe ich es erstmals aufgeschlagen: „Jetzt! Die Kraft der Gegenwart“ von Eckhart Tolle.

Gegen Mittag verzieht sich der Nebel über dem Lotusteich. Die große Glocke läutet, eine feine Stimme ruft zur Meditation. Wir ziehen die Regenjacken über und gehen schweigend zur großen Buddhahalle. 

Eine Stunde zusammen sitzen und schweigen. So einfach kann es sein. Und so schwer.

 Während ich dies hier schreibe, hängt eine Kalligraphie von Thich Nhat Hanh über meinen Arbeitsplatz: „No mud, no lotus“. Zu Weihnachten habe ich meinem Vater eine ähnliche geschenkt.Darauf steht: „La vie à chaque pas“ – „Das Leben Schritt für Schritt“.

Fotos © Sarah Elsing

 

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3 Kommentare / Schreibe einen Kommentar

  1. Liebe Sarah,
    diese Rührseligkeit von der du da sprichst, bedeutet für mich wohl, dass du einen anderen von dir körperlich getrennten Menschen genau da triffst, wo ihr miteinander eins und verbunden seid.
    Auch ich bin von deiner Geschichte getroffen, gerührt und sitze nun hier mit Freudentränen in den Augen, einen Pups gebend auf die vermeintlich berüchtigte Rührseligkeit. Ich danke dir dafür.
    Hab einen schönen Tag.
    Sarah

  2. Danke für den schönen, lebendigen Bericht! Ich freue mich mit euch, eine tolle Idee, dem Vater zum 70. so ein Geschenk zu machen! Und ich freue mich für dich, Sarah, dass du deinen Weg findest! Ich wünsche dir weiterhin viel Erfolg dabei, alles Gute und liebe Grüße: Christina (Ex-Freundin von Lothar)

  3. Danke für den schönen, lebendigen Bericht! Ich freue mich mit euch, eine tolle Idee, dem Vater zum 70. so ein Geschenk zu machen! Und ich freue mich für dich, Sarah, dass du deinen Weg findest! Ich wünsche dir weiterhin viel Erfolg dabei, alles Gute und liebe Grüße: Christina (Ex-Freundin von Lothar)

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