Die 5 Niyamas: So übst du die yogischen Regeln der Lebensführung

Die fünf Niyamas, Verhaltensregeln gegenüber sich selbst, sind die zweite Stufe in Patanjalis achtstufigem Yoga-Pfad. Welche fünf das sind, wie du sie üben kannst und wo es in der Yoga-Philosophie außerdem noch Yamas und Niyamas gibt, liest du hier.

Was sind die 5 Niyamas?

Niyamas (Sanskrit नियम, niyama) sind Regeln zur persönlichen Lebensführung, Gebote, ein Verhaltenskodex sich selbst gegenüber. In Patanjalis Yoga Sutra stellen die fünf Niyamas das zweite von acht Gliedern des Ashtanga-Yoga-Pfades dar und folgen damit auf die fünf Yamas, die Verbote bzw. Verhaltensregeln gegenüber anderen. Nicht von ungefähr erinnern diese beiden Glieder uns an die zehn Gebote aus der Bibel – in vielen philosophischen Schulen und Religionen gibt es derartige Anweisungen für den Umgang mit sich selbst und für das Miteinander.

Die fünf Niyamas lauten:

​​शौच संतोष तपः स्वाध्यायेश्वरप्रणिधानानि नियमाः ॥३२॥​
śauca-saṃtoṣa-tapaḥ-svādhyāyeśvara-praṇidhānāni niyamāḥ

Reinlichkeit, Zufriedenheit, Disziplin, Selbststudium und Hingabe an das Göttliche sind die Niyamas.
– PYS II.32

Während sich die Yamas um das Verhalten gegenüber anderen drehen – Gewaltlosigkeit, Wahrhaftigkeit, nicht stehlen und so weiter – geht es bei den Niyamas darum, wie du dich um dich kümmerst. Denn um in den Yamas etabliert zu sein und dich anderen gegenüber mitfühlend und korrekt zu verhalten, brauchst du einen guten Umgang mit dir selbst. Das eine kommt ohne das andere nicht aus.

Shauca: Reinlichkeit, Reinheit

Reinheit und Reinlichkeit und finden auf verschiedenen Ebenen statt. Ganz konkret auf der körperlichen Ebene – u.a. zum Erhalt unserer Gesundheit durch Hygiene. Hast du deinen Körper von außen und innen gereinigt, funktioniert er besser als dein Zuhause, in dem du dich wohlfühlst. Aber auch auf der geistigen, der emotionalen und der energetischen Ebene kann Shauca gepflegt werden. 

Reinigst du diese regelmäßig im Rahmen deiner Praxis, hast du mehr Raum und bist empfänglicher für das, was du durch Yogapraxis erfährst. Du machst dich quasi bereit für die Erleuchtung.

So gehört es bei vielen Traditionen dazu, sich vor der morgendlichen (Asana-)Praxis zu waschen oder zu duschen; man übt in frischer Kleidung und es ist ein Teil der Praxis, den Raum, die Matte und den Altar sauber und ordentlich zu halten. Eine leichte, vegetarisch/vegane Kost gilt als besonders rein (sattvisch), weil sie nicht beschwert und im Zusammenhang mit dem Yama Gewaltlosigkeit eher wenig Schaden für andere Wesen verursacht. Die Yogapraxis bietet verschiedenste Reinigungstechniken, zum Beispiel:

  • Die shat karma kriya, sechs traditionelle Reinigungstechniken aus der Hatha Yoga Pradipika für den physischen Körper: Reinigung der Atemwege und energetische Reinigung des Schädels (kapalabhati), die Reinigung der Nasenwege (neti), Techniken für den Verdauungstrakt (dhauti, basti), Massage der inneren Organe (nauli), Reinigung der Augen und Tränenkanäle (trataka)
  • Körperübungen (asana): Reinigung von physischem Körper und Energiekörper
  • Meditationstechniken oder Ujjyayi Pranayama als Konzentrationsübung für die Klärung des Geistes
  • Nadi Shodana: Reinigung der Energiekanäle
  • Das Rezitieren oder Singen von Mantra: Reinigung der energetischen Ebene, der Stimme und Sprache

Santosha: Zufriedenheit

Die Zufriedenheit, die bei Santosha gemeint ist, ist eine, die unabhängig von äußeren Umständen besteht und nicht rein oberflächlich ist. Der indisch-deutsche Yogagelehrte R. Sriram vergleicht Santosha mit einem Gefühl der Dankbarkeit und Sättigung, das beim Anblick einer üppig beladenen Tafel genauso empfunden werden kann wie beim Anblick einer einzelnen reifen Frucht. Im Gegensatz zu Glücksgefühlen, die wie ein Rausch empfunden werden können, aber auch garantiert vergänglich sind, ist Santosha von Dauer. 

Wahrscheinlich kennst du das Gefühl, dass es dir insgesamt besser geht und du mit den Herausforderungen des Alltags entspannter umgehen kannst, wenn du eine regelmäßige Bewegungs- oder Meditationspraxis hast. Du bist zufriedener. Das liegt daran, dass du eine Routine hast, die dir gut tut und dass du beim Praktizieren immer wieder erkennst, dass das Wesentliche nichts Materielles ist. 

Santosha erlangt man nicht durch das Anhäufen materiellen Reichtums oder äußeren Erfolgs. Auch nicht, indem man den Handstand perfektioniert; sondern durch eine disziplinierte Praxis von Gelassenheit, nicht-Anhaftung und Dankbarkeit – alles Dinge, die du auf der Matte übst. So kannst du Santosha üben:

  • Wenn die Asana-Praxis herausfordernd wird, versuche gelassen zu bleiben und dich nicht selbst zu verurteilen, wenn etwas nicht perfekt ist
  • Versuche, deine eigenen Grenzen – in der Praxis und jenseits davon – zu akzeptieren. Das heißt nicht, dass du nicht auch an ihnen arbeiten kannst!
  • Schreibe dir jeden Tag drei Dinge auf, für die du dankbar bist

Tapas: Disziplin

Das Wort tapas geht auf die Wurzel tap zurück, welche man mit brennen oder dürsten übersetzen kann. Traditionell wird es mit Disziplin oder Leidenschaft übersetzt, dem brennenden Wunsch, sich auf den Weg zu Yoga zu begeben und dabei zu bleiben. 

Wenn du dich einem Thema mit Tapas widmest, kann es sein, dass es für eine Zeitlang dein Leben dominiert und du auf andere Dinge verzichtest. Vielleicht merkst du, welche (materiellen) Dinge du angehäuft hast, die du eigentlich gar nicht brauchst. Es passiert eine Art Reinigungs- und Klärungsprozess. Diesen Prozess brauchst du, um langfristig deine Praxis beizubehalten; nur dann wirst du ein tiefes Verständnis für die Praxis entwickeln und die benefits von Yoga – sei es Asana oder andere Praktiken – wirklich erleben. 

Vielleicht erscheint dir gleich das Bild eines Asketen, der meditierend auf einem Berg sitzt und weder schläft noch isst. So weit musst du nicht gehen, um Tapas zu kultivieren. Hier einige Anregungen für mehr Tapas in unserem Alltag:

  • Übe regelmäßig, vielleicht sogar täglich. Und wenn es nur fünf Minuten Meditation und zehn Minuten Asana sind
  • Mache Reinigungsübungen (Kriyas
  • Übe stärkende Asanas, die dich etwas ins Schwitzen bringen und dein Feuer wecken
  • Tapas bedeutet brennen. Das Element Feuer ist dem Manipura Chakra zugeordnet, das u.a. für Willenskraft und Disziplin steht. Übe Asanas, die dieses Chakra ansprechen (Twists, Bauchübungen)
  • Überlege dir Möglichkeiten, dein Leben simpler zu gestalten. Sortiere alte Sachen aus, kaufe weniger, tätige keine Impulskäufe

Letzter Tipp: Wenn du hier auf Widerstände stößt, zum Beispiel keine Lust auf deine Praxis hast, versuche trotzdem dabei zu bleiben. Wenn du aber über die Zeit merkst, dass du langfristig eine andere Art der Praxis brauchst, ändere sie unbedingt und schau, was wirklich zu dir passt. Tapas sollte sich nicht anfühlen wie ein ständiger Kampf gegen die eigenen Widerstände, sondern sollte auch Santosha, Zufriedenheit, hervorrufen!

Svadhyaya: Selbststudium

Sharon Gannon, die Gründerin der Jivamukti Yoga Methode, sagt häufig: Yoga is the practice of remembering who we really are (Yoga ist die Praxis, sich daran zu erinnern, wer man wirklich ist). Svadhyaya, das Studium des Selbst, hängt damit ganz eng zusammen. Mit dem Selbst mit großem S ist nämlich gemeint, dass es um das höhere Selbst geht: das Selbst, das wir jenseits unseres vergänglichen Körpers, unserer Erfolge, Besitztümer und unseres Intellekts sind. 

Das Studium von yogischen Schriften, das oft konkret mit Svadhyaya gemeint ist, ermöglicht dir, deine Übungspraxis mit philosophischem Wissen zu untermauern. Im Grunde sind aber auch alle anderen Praktiken des Yoga Svadhyaya. Du lernst zum Beispiel durch die Asana-Praxis, dass dein Körper unglaubliche Fähigkeiten entwickeln kann – aber auch Grenzen hat, altert und vergänglich ist. Durch das Chanten von Mantra kannst du das erforschen, was tief im Herzen verborgen liegt. 

Svadhyaya ist, so schreibt R. Sriram, der Erwerb von Wissen und Weisheit mit einem Eigenbezug. Sriram hält Lernen dann für besonders sinnvoll, wenn es Relevanz für die eigene Realität hat, denn nur dann kann es uns in schwierigen Lebensphasen weiterhelfen.

Im Grunde erforschst du, wenn du Svadhyaya praktizierst, deine Aufgabe im Leben. So kannst du Svadhyaya üben:

  • Lies regelmäßig in Texten wie dem Yoga Sutra, der Bhagavad Gita oder den Upanishaden. Es gibt viele verschiedene Ausgaben und Übersetzungen, die teils sehr simpel und modern geschrieben sind. Hier geht’s zu unseren Yoga-Buchtipps
  • Tausche dich mit anderen über Yogaphilosophie aus
  • Übe deine Praxis, sei es Asana, Meditation oder andere, und bleibe dabei neugierig und aufgeschlossen. Spule sie nicht ab wie ein Pflichtprogramm
  • Chante Mantras. Vielleicht hast du eines, das dir besonders am Herzen liegt oder das dir von eine*m Lehrer*in gegeben wurde, dann nutze es für deine Meditationspraxis
  • Reflektiere deine Entwicklung, seit du mit Yoga angefangen hast. Was hast du über dich gelernt? Wie hast du deinen Umgang mit dir selbst und anderen verändert? Wie hast du dich entwickelt? Schreibe vielleicht in ein Tagebuch darüber

Ishvara Pranidhana: Hingabe an das Göttliche

Ishvara bedeutet übersetzt soviel wie Gott, Allgewaltiges, persönlicher Gott. Mit letzterem Begriff ist gemeint, dass Ishvara genau die Gestalt dessen annimmt, was für dich persönlich das Göttliche ist. Kein strafender, bewertender Gott, sondern eine Göttlichkeit, die ausschließlich Wohlwollen und Güte verströmt. 

Einer solchen göttlichen Kraft ungebrochene Verehrung zu schenken – Pranidhana bedeutet so viel wie Hingabe, Verehrung, Ergebung – fällt wahrscheinlich leichter, als einer Idee oder Figur, die einen für das eigene Verhalten sanktioniert und damit, wie R. Sriram schreibt, die eigene Selbsteinschätzung trübt oder beeinflusst.

Ishvara Pranidhana zu üben, bedeutet, die Bemühungen und Früchte der Yogapraxis nicht für sich selbst behalten zu wollen, sondern immer in dem Bewusstsein zu üben, dass man nur ein kleiner Teil eines großen Ganzen ist und dass man nicht alles selbst planen oder lenken kann. Dabei ist es egal, ob das Bild von Ishvara, das du für dich wählst, ein abstraktes wie der Kosmos ist oder ein ganz konkretes wie Jesus, ein Baum oder eine Kerze. 

So kannst du Ishvara Pranidhana üben:

  • Wenn du einen Altar hast, halte ihn sauber oder bringe deinem Ishvara regelmäßig ein Geschenk: vielleicht eine frische Blume. Sieh ihn nicht als Deko!
  • Wenn du Asana übst, entscheide vor Savasana bewusst, nicht nur den Körper zu entspannen, sondern auch alles, was der Körper gelernt hat, hinzugeben.
  • Wenn du an einer besonders komplizierten Asana arbeitest, mach es nicht, weil du sie einfach können willst, sondern erinnere dich an Ishvara Pranidhana
  • Singe Mantras

Exkurs: Die Niyamas in der Hatha Yoga Pradipika

Weniger bekannt als die Niyamas aus dem Yoga Sutra sind die Niyamas in der Hatha Yoga Pradipika*, ein Text, der ca. im 14. Jahrhundert n. Chr. entstand und damit ca. 1000 Jahre jünger ist als das Yoga Sutra des Patanjali. Autor Svatmarama nennt in Kapitel 1, Vers 16 nicht fünf, sondern je zehn Yamas und Niyamas, die sich teils mit denen aus dem Yoga Sutra überschneiden. Hier nenne ich kurz die zehn Niyamas nach Svatmarama, vielleicht inspiriert dich das ja zu weiterer Recherche!

  • Tapas: Disziplin
  • Santosha: Zufriedenheit
  • Astikya: Glaube an Gott, tiefes Vertrauen
  • Dana: Wohltätigkeit
  • Ishvara Pujana: Verehrung Gottes
  • Siddhanta Vakya Shravanam: Anhören der Wiedergabe von heiligen Lehrsätzen
  • Hri: Schamhaftigkeit, Rücksichtnahme auf andere
  • Mati: Einsicht, Besonnenheit
  • Japa: Mantra-Wiederholung
  • Huta: Opferzeremonie, besondere Gelübde

>> Lesetipp: Welche Ausgaben der Hatha Yoga Pradipika wir noch empfehlen, erfährst du in unserem Artikel über die besten Yoga-Bücher

Ich hoffe, dieser Überblick über die fünf Niyamas hat dir gefallen und geholfen.

Du möchtest noch mehr zu den Niyamas erfahren? Mein Text ist nur ein kurzer Einblick und enthält bei weitem nicht alle Aspekte und alle verschiedenen Interpretationen, die es gibt. Ich empfehle dir, verschiedene Ausgaben des Yoga Sutra zu lesen und die Auslegungen der jeweiligen Autor*innen zu vergleichen. Du wirst merken, dass es sehr unterschiedliche Lesarten gibt. 

Wenn du dabei nicht weiter kommst oder noch Fragen dazu hast, schreibe gerne einen Kommentar! Ich freue mich drauf!

Ressourcen und Buchempfehlungen

Yoga Sutra Ausgaben

Weitere Quellen

Titelbild © Ulrike Schäfer

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