Achtsamkeit mit Landkarte: Das Change Triangle nach Hilary Jacobs Hendel

Der tiefe Atemzug kommt meistens zu spät. 

Wenn die Beleidigung schon gefallen ist und der Streit eskaliert. Es ist eine Frage von Millisekunden. Kleinste Zeiteinheiten, die mich in einen Wutausbruch reiten. Unaufhaltsam scheint meine Aktion die Reaktion zu überholen. Dann gerate ich in den Zuschauermodus meiner eigenen Attacke und frage mich gleich danach, wer das eigentlich gerade war und ob das nicht zu verhindern gewesen wäre. Seit dem Beginn der Quarantäne ist diese Art der Reaktion zu einer verstörenden Routine von mir geworden.

Ärger ist nur eine von vielen Reaktionen, die körperlich erschüttern und vom denkenden Teil unseres Selbst kaum steuerbar sind. 

Auch Panikattaken, Stressreaktionen, Tränenausbrüche und der sprichwörtliche Knoten im Hals illustrieren die gefühlte Machtlosigkeit unseres kognitiven Systems gegenüber dem Emotionalen. Körperliche Reaktionen auf mentale Reize laufen so schnell ab, dass das Gehirn erst im Anschluss, quasi als später Regulator, einschreiten kann.

Der Erforschung von Kurzschlussreaktionen widmet sich Hilary Jacobs Hendel.

Hilary Jacob Hendel ist ausgebildete Psychoanalytikerin und Therapeutin und hat das Buch It’s Not Always Depression* („Es sind nicht immer Depressionen“) geschrieben. Aber ihre Mission geht weit über Freuds Lehre hinaus. Unter dem Leitmotiv Höre auf deinen Körper zeigt sie die Grenzen der modernen Psychologie und der kognitiven Verhaltens-Traditionalisten auf. Diese betrachten oftmals nicht die Verbindung zwischen Emotionen und dem Körper.

Mit dem Change Triangle (Veränderungsdreieck) möchte Hendel neue, ganzheitliche Wege der Traumatherapie aufzeigen.

Im Gegensatz zur klassisch kognitiven Therapie zielt diese Behandlungsmethode auf die Heilung von Körper und Geist ab, oder vielmehr auf die Heilung von Geist auch durch Körperarbeit. Das Change Triangle sieht aus wie ein umgedrehtes Dreieck, ist aber mehr als eine geometrische Form. In jeder Ecke ist ein emotionaler Zustand vermerkt: Defense (Verteidigung), Anxiety, Shame, Guilt (Stress, Scham und Schuld) und Core Emotion (Kerngefühl). 

Je nach Stimmungslage kann ich mich hier verorten, also feststellen, was am besten zu meinem aktuellen Gefühl passt. 

Bin ich mir zum Beispiel meiner Wut bewusst, also im Kerngefühl-Bereich oder befinde ich mich noch in der Defensive? Fühle ich mich schuldig oder schäme ich mich meiner tiefer liegenden Emotionen wie der Wut? Gründe dafür können frühe Erfahrungen im Umgang mit diesen Gefühlen sein, also zum Beispiel die Eltern, die ihrem Kind signalisieren, dass Wut keinen Platz im Streit hat. 

Die Auseinandersetzung mit Emotionen, die sich auch körperlich zeigen, steht beim Change Triangle im Vordergrund. 

Wenn ich auf dem Dreieck meine Lage ehrlich lokalisieren kann, ist der Weg zur echten Emotion und somit zum reflektierteren Umgang mit dieser Emotion nicht mehr weit. Es geht also ganz praktisch darum, die eigenen Gefühle zu verstehen und dazu gehört auch, wahrzunehmen, wie sich das Innenleben auf den Körper auswirkt. In ungewissen Zeiten und dem kollektiven Gefühl von Kontrollverlust durch das Corona-Virus erscheint mir Hilary Jacob Hendels Buch* aktueller und notwendiger denn je.

Gerade jetzt, wo Ängste sich so oft in Ärger und Schuldzuweisungen gegenüber unseren Mitmenschen ausdrücken, wo Panik- und Stressmomente sich ihren Weg bahnen wollen, aber durch die Unterdrückung des denkenden und beurteilenden Selbst nicht immer Gehör finden, müssen wir verstärkt nach innen gehen. 

Meinem Ärger liegt meistens Angst zugrunde, das habe ich im Change Triangle gelernt.

Ein derart direkter Ansatz ist so selten wie neu und hat für mich als Yoga-Therapeutin sofort Sinn ergeben. Die Körper-Geist-Achse in der Psychotherapie beleuchtet das genauer, was im Yogaunterricht nicht zu Tage treten kann: Wie manifestieren sich meine Gefühle eigentlich körperlich? Und was mache ich dann mit ihnen?

Ich habe Jacobs Hendel digital getroffen und mir die Methode erklären lassen. 

Frau Jacobs Hendel, Ihr Buch trägt den Titel It’s Not Always Depression. Depressionen spielen darin aber eine eher kleine Rolle. Wie kam es zu dem Titel?

Verdrängte Gefühle können natürlich mehr als Depressionen auslösen, zum Beispiel chronische und soziale Angststörungen verursachen und Nährboden für viele weitere Symptome und Diagnosen wie Essstörungen, Süchte, Borderline und narzisstische Persönlichkeitsstörungen darstellen. All das sind abwertende Begriffe für Symptome, die aus Trauma entstehen. Verdrängte Gefühle und traumatischer Stress sind eng miteinander verwandt.

Der Titel des Buches* basiert auf einem Artikel aus der New York Times. Dieser Artikel ging viral. Daraufhin wurde ich gebeten ein Buch über Gefühle zu schreiben. Ich entschied mich, über das Change Triangle zu schreiben, weil es mich vom ersten Moment an überzeugt hatte. Da dieser Artikel von so vielen Menschen gelesen wurde, beschloss der Verlag, dem Buch den gleichen Titel zu geben. Emotionen lassen sich schlecht verkaufen, da Menschen sie gerne verdrängen. Aber wir sind meist offener dafür, Gefühle zu verstehen, wenn wir sie entmystifizieren.

Was hat Ihr Interesse am Change Triangle geweckt?

Als ich dem Change Triangle zum ersten Mal auf einer Konferenz begegnete, war ich sofort begeistert. Es war eine echte Erleuchtung. Zum ersten Mal verstand ich meine eigenen Ängste und Emotionen. Es veränderte meine psychische Gesundheit ich begann direkt, anderen von dem Konzept zu erzählen. Meiner Ansicht nach sollten alle Menschen das Change Triangle kennen und schon in Jugendjahren über ihre Gefühle unterrichtet werden. Noch nicht einmal in meiner fundierten Ausbildung in Psychologie behandelten wir die Rolle von Gefühlen. Es scheint mir eine fahrlässige Lücke in unserem Gesundheitssystem zu bestehen, unsere Schulen bieten keinerlei Ausbildung zum Umgang mit Gefühlen an, die doch so verantwortlich für unser Denken, Glauben und Handeln sind. Ich wollte diesem Mangel an emotionaler Bildung in Form des des Change Triangle etwas entgegensetzen, so dass die Öffentlichkeit ein einfaches und praktisches Werkzeug zum besseren Verständnis von Emotionen und deren Wirkung in Körper und Geist besitzt.

Wie unterscheidet sich das Change Triangle von anderen Ansätzen der modernen Psychologie?

Gefühle zu verarbeiten ist ein integraler Bestandteil von Accelerated Experiential Dynamic Psychotherapy (AEDP), der Art von Therapie, mit der ich arbeite. Das ist ein besonderes Training, auf das ich bei der gleichen Konferenz gestoßen bin, in der mir auch das Change Triangle vorgestellt wurde. Ich bin ausgebildete Psychoanalytikerin und habe so einige Therapieansätze studiert. Aber kein anderes Verfahren erachte ich als so wirksam, sowohl im Erkenntnisgewinn als auch im Heilungsansatz. Wenn wir uns die Kraft von Gefühlen zu Nutze machen, können wir alte und neue Traumata heilen. Dabei spielt die Neuroplastizität, also die Wissenschaft um die Neuverkabelung im Gehirn eine wesentliche Rolle.

Sie erwähnen, dass die Ursprünge des Change Triangle bis in der siebziger Jahre zurückgehen. Wie beurteilen Sie die Rezeption Ihres Buches unter Psycholog*innen heute?

Deutlich besser! Gefühle erleben und die Arbeit mit dem Körper wurde lange als Esoterik abgestempelt. Mittlerweile hat die Wissenschaft aber nachgezogen. Wir wissen aus Gehirnscans und anderen Studien jetzt viel mehr über das Gehirn und seine Verbindung zum Körper anhand des Vagusnervs. Traumatherapie-Methoden werden salonfähiger, weil sie Menschen zur schnelleren Heilung verhelfen und direkter wirken als kognitive Verhaltenstherapie oder Psychoanalyse allein. W​ir müssen den Menschen helfen, ihre Emotionen körperlich zu verarbeiten, um beste Ergebnisse zu erzielen. Nur über sie zu sprechen, ohne ihre Verbindung zu fühlen, ist nicht effektiv.​ AEDP, wie es von Diana Fosha entwickelt wurde, verbreitet sich gerade auf der ganzen Welt. Therapeut*innen, die den Ansatz in Aktion erleben, verlieben sich aus vielen Gründen in ihn.

Können Sie eine kurze Übersicht über Erscheinen und physische Manifestation von Core Emotions (Kerngefühlen) im Körper geben?

Wenn ich beispielsweise den Verlust eines geliebten Menschen erfahre, verursacht das Trauer im Zentrum meines Gehirns. Das Zentrum ist mit dem unteren Teil des Gehirns verbunden, das seinerseits zu allen Organen des Körpers vermittelt. Verluste rufen ein Schweregefühl im ganzen Körper hervor, am deutlichsten spürbar im Brustbereich um das Herz. Ich spüre dann Druck hinter den Augen, der mir anzeigt, dass Tränen fließen wollen. Wenn ich mich auf das schwere Gefühl in meiner Brust und das Gefühl hinter den Augen konzentriere, ohne durch muskuläre Spannung oder gehaltene Atmung zu blockieren, wird es fließen. Ich werde weinen und atmen und schon nach wenigen Minuten wird die Trauerwelle weitergezogen sein. So reguliert sich das Nervensystem und ich fühle mich gleich etwas besser.

Wie würden Sie die Bedeutung des Change Triangle in der aktuellen Situation des kollektiven Ausnahmezustands beschreiben?

Ich kann mir nicht vorstellen, diese Pandemie ohne das Change Triangle durch zu machen. Es erinnert uns daran, uns mit uns selbst zu konfrontieren und zu verorten, wo auf dem Change Triangle wir uns befinden: Defensive, Sorge, Schuld oder Scham, Core Emotion oder im Status des offenen Herzens. Sobald ich mich verortet habe, weiß ich, was ich zu tun habe. Es funktioniert wie Achtsamkeit mit Landkarte. Wenn Paare streiten, weil sie unterschwellige Gefühle von Angst, Trauer und das Bedürfnis nach Liebe und Komfort empfinden, hilft ihnen das Change Triangle, das innere Erleben zu verstehen, so dass sie dieses mitteilen können, statt ihren Ärger zu bewältigen, indem sie sich anschreien.

Während der Pandemie lehrt uns das Change Triangle durch die Geschichten und Übungen im Buch, wie wir uns Sorgen, Ängste, Trauer, Ärger und vieles mehr verarbeiten können, sodass sie nicht stecken bleiben und uns zu schlimmeren Gefühlen verleiten. Wenn wir authentisch mit anderen in Kontakt treten und das Change Triangle als Leitfaden verwenden, können wir uns am Ende dieser anstrengenden und grauenvollen Pandemie einander näher fühlen. Menschen fühlen sich besser und handeln entsprechend, wenn sie ihren Gefühlen und dem, was sie körperlich spüren, eine Sprache geben können.

Welche Core Emotions halten Sie in Zeiten von Corona für am Relevantesten?

Alle essentiellen Gefühle und Bedürfnisse sind wichtig und valide. Die, über die am meisten gesprochen wird und die den meisten Menschen derzeit Probleme bereiten, sind Stress, Wut, Angst und Trauer. Aber auch Schuldgefühle, weil man vermeintlich nicht genug getan hat. Hier hilft es, von Schuld- zu Dankbarkeit umzudenken, wie ich es im Buch beschreibe. So können wir Vorarbeit leisten, und anderen unsere Hilfe anbieten. Das schließt auch ein, für den eigenen Gemütszustand in Quarantäne zu Hause zu sorgen, sodass wir unseren Mitbewohner*innen und Familienmitgliedern ruhiger und freundlicher entgegentreten können.

Sie nennen die tiefe Bauchatmung als Methode zur Erdung und zum Stressabbau. Mit welchen anderen physischen Ansätzen arbeiten Sie selbst mit Ihren Klienten?

Ich motiviere zur Konzentration auf das eigene Empfinden, ohne zu beurteilen. Auch die Arbeit mit dem inneren Kind, der Einsatz von Fantasie zur Verarbeitung von Gefühlen ist erlaubt. Geerdet zu bleiben in Verbindung mit einem älteren, weiseren anderen also jemandem, der sich mit Gefühlen auskennt, während man den Zugang ermöglicht, ist eine Methode. All das zeige ich in den Geschichten in meinem Buch.

Welche Rolle kann die Yogapraxis für den Zugang zu den eigenen, wahren Gefühlen spielen?

Ich selbst praktiziere kein Yoga, sie könnten mir also vermutlich mehr darüber sagen. Ich höre von meiner 28-jährigen Tochter Samantha, mit der ich seit zwei Wochen die Quarantäne aussitze, dass sie in ihrer Praxis erfährt, wie Dinge im “Hier und Jetzt” nach oben kommen. Sie meint, die Idee von Yoga sei es, bewusst zu bleiben ohne sollen und nicht sollen oder Vergangenheit und Zukunft. Sie findet, man werde sich seiner Gefühle deutlicher bewusst, da man sich zwangsläufig das Erlebte bewusst machen und anerkennen müsse. Was denken Sie?

Ich danke Hilary Jacobs Hendel für das Interview.

Ich kann Samantha nur zustimmen und gleichzeitig weiß ich, dass eine Skizze von Hendels Change Triangle noch lange in meiner Geldbörse auf mich warten wird. Zumindest bis zu dem Moment, wo ich meine Wut gut genug verstehe, um sie gehen zu lassen.

Welche Tools nutzt du, um dich in Kurzschlussreaktionen herunterzufahren? Wie spürst du die Verbindung von Emotion und Körper am besten? Ich freue mich auf deinen Kommentar.

Deine Lea

Titelbild © Hilary Jacobs Hendel

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