Einmal ausrasten, bitte! Auf der Suche nach meiner Wut

“Also, wenn ich du wäre, würde ich total ausflippen! Das macht mich ja so wütend! Warum bist du so nett? Schrei ihn verdammt nochmal an!” – Meine Freundin steht mit in die Taille gestemmten Fäusten vor mir, das Gesicht hochrot. Ich sitze wie ein Häufchen Elend in der Ecke und bin einfach nur traurig.

Eine mögliche Trennung schwebt über mir und statt in dem Konflikt meine Position zu verteidigen, mache ich mich ganz klein, weine viel und überlege, wie es ihm dabei geht. Meine Freundin ist längst nicht die einzige, die mich zu mehr Wut anstacheln will.

Wenn mir noch jemand sagt, ich solle mich mehr aufregen, dann raste ich aus.

Immerhin bin ich Yogalehrerin. Akzeptanz und Entspanntheit sind quasi meine zweiten Vornamen. Und es ist nicht besonders yogisch, denke ich, sich einfach leidenschaftlich einen Ausflipper nach dem anderen zu leisten und hinterher die Scherben mehr schlecht als recht wieder zusammen zu kleistern.

Aber so sehr ich auch Angst habe, meine Beziehungen zu beschädigen: Ich weiß eigentlich, dass es nicht gesund sein kann, die eigene Wut herunter zu schlucken. Nur: Wo ist die meine? Ich kann sie wirklich nicht finden.

Janna ist da das komplette Gegenteil von mir.

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Janna und Uli. © Roberto Brundo

“Ich werde ständig und häufig wütend! Ich bin da wie eine Rakete.” In Janna finde ich eine Gesprächspartnerin, die ihre Wut leidenschaftlich und offenbar auch irgendwie produktiv auslebt. Sie gibt Workshops zum Thema Yoga and Female Empowerment, unter anderem auch zum Thema Wut. Ihre Erfahrung ist, dass die Teilnehmerinnen schwer einen Zugang dazu finden und sagen, sie seien eigentlich nie wütend.

“Aber ich antworte dann immer: Es gibt so krass viele Gründe, wütend zu sein! Schon alleine die ganzen Ungerechtigkeiten, die uns als Frauen widerfahren. Dass wir weniger Geld bekommen, dass wir belästigt werden, dass wir auf unser Äußeres reduziert werden.”

Das Problem: Wir haben Angst, als wütende Frauen zurückgewiesen und nicht ernst genommen zu werden.

Die Angst vor dem eigenen Wutausbruch hat viel mit geschlechtlicher Prägung zu tun.

Studien zeigen, dass eine wütende Frau vor allem im Arbeitsumfeld eher als schwach gesehen wird: Die Gründe für ihre Wut liegen in der Wahrnehmung Außenstehender im Inneren: “Hat sie ihre Tage?”

Bei Männern hingegen wird Wut als Stärke anerkannt, deren Grund ganz klar außerhalb liegt und daher berechtigt ist. Kein Wunder also, dass Frauen sich keine Ausraster zugestehen; schließlich wollen wir nicht als hysterische Dramaqueens gesehen werden.

“Und ganz typisch: Immer gleich daran denken, wie es den anderen damit geht.”

Janna spricht an, was mir auch oft passiert: Ich sage nichts, weil ich niemanden verletzen will. Ich umsorge und hätschle. Ich stelle meine eigenen Bedürfnisse hinten an, wenn ich nicht schreie, um die andere Person nicht zu verletzen. Ich fühle mich hilflos und schwach.

Es gibt aber gute Gründe, für Wut dankbar zu sein.

Denn wenn mich etwas wütend macht, ist das ein Hinweis auf ein unerfülltes Bedürfnis, und wenn ich mich damit beschäftige, kann ich sehr viel über mich selbst lernen. Ich kann aus der Hilflosigkeit in eine aktive Rolle treten, etwas verändern.

Außerdem bergen Wutanfälle oft große Kraft:

“Wenn mich die sozialen und ökologischen Verhältnisse auf diesem Planeten nicht wütend machen würden, dann hätte ich auch gar nicht die Kraft, etwas dagegen zu unternehmen,”

sagt Janna, die sich seit Jahren als Aktivistin für den Umweltschutz und gegen soziale Ungerechtigkeiten engagiert.

Kraftvoll ist die Energie der Wut bestimmt – aber wo ist meine Zündschnur versteckt?

Kurzerhand melde ich mich bei einem Workshop an. Er heißt “Mut zur Wut!” und wird von Lana und Alina vom Forschungsraum Weiblichkeit veranstaltet. Einen ganzen Samstag setze ich mich in einer Gruppe von Frauen mit meiner Wut auseinander.

Ich lerne zuerst, dass Wut einer der fünf Primäraffekte ist und zusammen mit Angst, Scham, Freude und Traurigkeit zu den grundlegendsten Gefühlen des Menschen gehört.

Nur, wenn wir Zugang zu diesen Grundgefühlen haben, können wir uns selbst wirklich kennen.

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© Forschungsraum Weiblichkeit

In verschiedenen Übungen, teils alleine, teils mit Partnerin oder in der Gruppe, tasten wir uns langsam an unsere Wut heran. Zuerst verbal, dann mit Hilfe von buntem Tonpapier, aus dem wir unsere Wut “basteln.”

Wir üben schreien, “aus dem Bauch heraus”. So laut, dass das ganze Haus wackelt, wir dabei aber nicht heiser werden. Die Meditationsgruppe aus dem dritten Stock weiß nicht, wie ihr geschieht.

Der Workshop gipfelt im so genannten “freien Schlagen.”

Tatsächlich: Wir dreschen, unter der Obhut einer Partnerin, mit einer Handtuchwurst auf einen Stapel Kissen ein und schreien dabei wie wild, was auch immer uns in den Sinn kommt.

Meine Partnerin schlägt zuerst und steigert sich innerhalb einer halben Sekunde von 0 auf 100, rastet komplett aus. Ich lege intuitiv meine Hand auf ihren Rücken. Es ist eine krasse Erfahrung, ihr dabei zuzusehen, wie sie ihr Innerstes so unverfälscht nach außen kehrt. Sie beendet allerdings schon nach kurzer Zeit mit einem fröhlichen “Ach, das tat gut. Ich bin durch.” ihre Runde.

Ich bin total verblüfft darüber, wie erleichtert sie gleich ist und wie so schnell eine Riesenlast von ihr abgefallen scheint; ich selbst schaffe es auch, zu schreien und zu schlagen, bis mir alles weh tut. Meine Selbstkontrolle gebe ich aber nicht auf. Ich verspüre so etwas wie Erleichterung danach, aber fühle mich eher, als würde ich performen.

Als wir im Anschluss wild tanzen, merke ich, wie in mir etwas aufgeht.

Freude, Ausgelassenheit, ganz viel Energie. Hat sich meine Wut verabschiedet, wenn auch eher unerkannt?

Auch Janna und ich sind uns einig, dass es verdammt erleichternd ist, Wut rauszulassen.

Wie sonst erklärt sich, dass man sich einfach viel besser fühlt, wenn man den aggressiven Autofahrer im Straßenverkehr mit Flüchen belegt, obwohl dieser sie natürlich gar nicht hört?

Im Übrigen, ergänzt Janna, ist das Bild des ewig gleichmütig über dem Boden schwebenden Yogis auch eine Illusion. Nur weil wir ein paar Mal die Woche auf die Matte steigen und dort Gelassenheit üben, können wir nicht 24 Stunden, sieben Tage die Woche gleichmütig sein und alles loslassen. Das ist einfach nicht realistisch. 

“Loslassen und Gleichmut sind nicht das gleiche wie ‘mir ist alles völlig egal, alles nur Gedankenwirbel, die nicht wirklich real sind.’ Das ist albern. Es geht um Authentizität, und nicht darum, über den Dingen zu schweben.”

Unsere Gefühle sind in dem Moment, in dem wir sie empfinden, real, und müssen anerkannt werden.

Wenn wir sie zulassen, können wir sie unter die Lupe nehmen und feststellen, was wirklich dahinter steckt. Nämlich unerfüllte Bedürfnisse nach Nähe, Anerkennung, Liebe, Gerechtigkeit und so weiter. Gleichzeitig wissen wir als Yogis, dass Gefühle auch vergänglich sind. Morgen sind wir nicht mehr so sauer. Aber wir haben etwas daraus gelernt.

Klar ist auch: Wenn diese Bedürfnisse nicht dem entsprechen, was vermeintlich von uns erwartet wird, erfordert es Mut, der Wut und Co. Ausdruck zu verleihen statt im stillen Kämmerlein zu brüten. Es könnte schon sein, dass wir andere damit überrumpeln, überraschen. Das müssen wir in Kauf nehmen, wenn wir wir selbst sein wollen.

Was wir vom Yoga lernen können ist, authentisch zu sein und uns von Rollenbildern und Erwartungen zu lösen.

“Wir müssen uns Dinge zugestehen. Wir müssen uns gerade als Yogis verabschieden von so einem Idealbild einer ständig gleichmütigen, gutgelaunten Superfrau. Das sind wir einfach nicht. Es ist eher halt die Frage: Schlucken wir das runter? Ich glaube davon wird man krank.” – Janna

Mit diesen Schritten nähere ich mich neuerdings meiner Wut

  • Wut erkennen und für mich selbst feststellen, was mich wütend macht: So lerne ich mehr über mich selbst: Wut ist immer Anzeichen unerfüllter Bedürfnisse
  • Wut kommunizieren: In einem Konflikt kann man der anderen Person sagen “Das macht mich gerade richtig wütend”, ohne per se verletzend zu reagieren
  • Wut sicheren Raum geben: In Streits oder Diskussionen eine Pause einlegen, den Raum verlassen, in ein Kissen schreien oder laut fluchen
  • Wut als Kraftquelle sehen: Aus der Hilflosigkeit herauskommen, indem ich überlege, wie ich etwas an der Situation verändern kann, die mich wütend macht. Dann aktiv werden

Ich habe inzwischen geschafft, meine Wut zu erkennen und begrenzt auch zuzulassen. Mein nächster Schritt wird sein, die Erkenntnisse daraus auch zu verbalisieren und mich nicht davon abbringen zu lassen, meine Meinung zu äußern. Auch, wenn es riskanter ist, als immer die Chefdiplomatin zu sein.

Bist du eher eine Rakete oder ein stilles Wasser? Wie äußert sich deine Wut und wie gehst du mit Wutausbrüchen um? Ich freue mich auf deinen Kommentar!

Disclaimer: Lana und Alina vom Forschungsraum Weiblichkeit haben mich freundlicherweise zu ihrem Workshop eingeladen. Daher insofern Werbung als dass ich kostenfrei teilnehmen durfte.

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2 Kommentare / Schreibe einen Kommentar

  1. Toller Beitrag!
    Wut ist Kraft, Aktivität, Mut, Autonomie, manchmal auch Dominanz und eben alles, was mit Vorantreiben zu tun hat. Trotzdem finde ich ist es nicht nötig vor Wut zu platzen oder anderen mit der eigenen Wut zu schaden. Immer schön reflektieren, was hat die Wut mit mir zu tun und was gibt es zu verstehen und wir vermittle ich das meinem Gegenüber.
    So halte ich es:)

    Herzlichen Gruß aus Köln,
    Isabel
    P.S: Ich denke oft an deine außergewöhnliche Yogastunde in Berlin!!!

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