Traumasensitives Yoga: Wie der Yogastil dich stärken kann

Triggerwarnung: Der Artikel nimmt Bezug auf einen sexuellen Übergriff. Wenn du selbst Erfahrungen mit sexuellem Missbrauch oder Nötigung gemacht hast, suche dir Hilfe und lies diesen Artikel lieber nicht. Hier kannst du Unterstützung finden.

Diesen Artikel zu schreiben, war nicht sehr einfach für mich. Doch Marlene Halsers Bericht zu sexuellem Missbrauch im Yoga hat mich ermutigt, meine Geschichte zu erzählen, mir Hilfe zu suchen und meine Erfahrungen mit anderen Betroffenen zu teilen.

Yoga und Spiritualität waren immer mein Anker in stressigen Phasen und schwierigen Lebenslagen.

Wie sehr hatte ich mich deshalb auf meine Indienreise gefreut, um tiefer in Spiritualität einzusteigen. Ich hätte nicht gedacht, dass diese sicheren Lebenspfeiler mal einen heftigen Riss bekommen könnten. Ich will nicht groß drum herumreden, ich erlebte in Indien sexualisierte Gewalt in einem sehr vertrauten, spirituellen und familiären Raum. 

Es geschah bei der Familie einer Freundin, die sehr spirituell ist und viel Yoga praktiziert. 

Ja, wirklich alle in der Familie, von den Töchtern bis hin zu den Eltern, üben Yoga. Besonders der Vater deklarierte sich oft als der spirituelle Experte, der zu allen Lebenslagen einen weisen Spruch auf den Lippen hatte. Mit ihm habe ich mich über spirituelle Fragen ausgetauscht. Auch Asanas haben wir zusammen geübt. Das Haus der Familie war bis dahin für mich ein sicherer Ort und ich habe mich stets gut aufgehoben gefühlt, bis der Vater mein Vertrauen ausgenutzt hat und sexuell übergriffig wurde. Als Vorwand schob er meine Gesundheit vor und dass er mir weitere Asanas zeigen wollte.

Ich wollte mir Hilfe suchen, dachte aber, dass es kaum etwas bringen würde, zur Polizei zu gehen. Schließlich stünde Aussage gegen Aussage und der Vater war ein anerkannter Arzt mit Einfluss. Ich war der festen Überzeugung, dass mir keine*r glauben würde. Also habe ich versucht, mein Trauma auf meine Art und Weise zu verarbeiten: Ich bin ohne Umschweife abgereist, habe mit meinen engsten Vertrauenspersonen gesprochen, die unmittelbar in meiner Nähe waren, aber auch Zuhause in Deutschland. Wichtig war mir, meine Reise fortzusetzen, das wollte ich mir nicht nehmen lassen. 

Ich habe versucht, mit der sexualisierten Gewalt, die mir widerfahren ist, abzuschließen. Doch bis heute machen sich Folgen bemerkbar. 

Zum Beispiel fällt mir körperliche Nähe schwer, ich habe oft Albträume und leide unter gelegentlicher Dissoziation und Panikanfällen, wenn mich Erinnerungen an den Übergriff heimsuchen. Auch mein spiritueller Glauben ist ins Wanken geraten.

Unmittelbar nach dem Übergriff dachte ich, durch meine selbst geschaffene Realität schuld an meinem Schicksal zu sein. 

Einer meiner positiven Glaubenssätze war, dass ich mit meiner Einstellung mein Leben voll und ganz bestimmen kann. Gute Gefühle und positive Gedanken würden meine Realität erschaffen. Wenn ich immer nur negativ und unsicher bin, werden auch meine Problemthemen zum Vorschein kommen und mich handlungsunfähig machen. So hatte ich das Gefühl, mit meiner Unsicherheit als alleinreisende Frau den Übergriff heraufbeschworen zu haben. Ich fühlte mich bestätigt, selbst schuld an meiner Situation zu sein und nun mit der Scham leben zu müssen.

Ich weiß mittlerweile, dass dieses Gefühl irrational ist und nicht der Wahrheit entspricht. Ebenso weiß ich durch meine Erfahrungen mit psychotherapeutischer Behandlung, dass ich und mein Körper ein Trauma erlebt haben und sich nun posttraumatische Belastungsstörungen bemerkbar machen.

Am schlimmsten ist für mich aber die Tatsache, dass der sexuelle Missbrauch meine Yogapraxis beeinflusst hat.

Oft habe ich in bestimmten Asanas Flashbacks, weshalb sie mir schwerfallen oder ich sie gar nicht mehr üben will. Besonders im Schulterbereich habe ich Schmerzen und der Oberkörper fühlt sich oft verspannt an. Es sind die Stellen, an denen er mich angefasst hat. Doch es sind nicht nur die körperlichen Symptome, mit denen ich lernen will umzugehen.

Ich möchte Yoga wieder zu meinem Anker machen und der Praxis wieder die Bedeutung verleihen, die sie für mich hatte.

Ich möchte einen Weg finden, wieder Yoga zu üben und schöne Erinnerungen damit zu verknüpfen. Denn die Praxis gehört zu mir und ich will sie mir von niemandem nehmen lassen. Durch meine Yogaschule bin ich auf Traumasensitives Yoga gestoßen und hatte sofort das Gefühl, dass diese Yogaart das richtige für mich und meine Situation sein könnte. Meine Yogalehrerin gab mir schließlich die Nummer eines befreundeten Yogalehrers, mit dem ich mich zum Gespräch getroffen habe und, um die Yogarichtung selbst auszuprobieren.

Leander Graf, Yogalehrer für Traumasensitives Yoga, hat mir all meine Fragen rund um die besondere Form des Yoga beantwortet.

Leander, was kann ich mir unter traumasensitivem Yoga vorstellen?

Traumasensitives Yoga hat einen körpertherapeutischen Schwerpunkt und richtet sich an Menschen mit traumatisierenden Erfahrungen und ihren oft sehr individuellen physischen und psychischen Reaktionen. Im Traumasensitiven Yoga, kurz TSY, liegt der Fokus auf dem vegetativen Nervensystem – insbesondere dem Sympathikus und Parasympathikus. 

Es ist erstaunlich, über was für ein Gedächtnis unser Körper verfügt und wie viel sich unser Körper merkt. In Gefahrensituationen zum Beispiel reagiert der Sympathikus und bringt unseren Körper in höchste Alarmbereitschaft. Später greift dann der Körper auf diese Reaktionen zurück, er speichert sie. Bei traumatisierten Menschen kann diese Funktion durch das Erlebte über- oder auch unterreguliert sein. Sie spüren dann in bestimmten Haltungen sehr viel oder überhaupt nichts. Weshalb es auch im TSY besonders sympathikus- als auch parasymapthikusaktivierende Asanas und Pranayama braucht.

Was macht Traumasensitives Yoga (TSY) so besonders?

Um Veränderungen wahrzunehmen, werden die Yoga-Sequenzen im TSY langsam ausgeführt, um eben genau Reaktionen des Körpers beobachten und ggf. auf sie reagieren zu können. Nach der Stunde hat der*die Schüler*in ein intensiveres Körperempfinden, weshalb sich Körperregionen anders anfühlen können als vor der Stunde. Außerdem fordert TSY den achtsamen Umgang mit dem eigenen Körper. Die Schüler*innen lernen mit der Zeit, genau zu schauen, was sie brauchen und was auf keinen Fall geht.

Im Bezug auf Traumata ist es wichtig, eine feste Reihenfolge vorzugeben, an die sich der*die Schüler*in halten kann. Wir versuchen, gemeinsam Haltungen für sie finden, die ihnen guttun und ein Gefühl von Sicherheit geben. Was TSY so besonders macht, ist, dass es zwar einen Rahmen gibt, der*die Übende sich darin aber sehr frei und individuell bewegen kann.

Ich als Lehrer im TSY gebe einen festen zeitlichen Rrahmen vor, in dem wir zusammen Haltungen ausführen und beenden. Aber die Schüler*innen haben stets die Möglichkeit, die Haltung zu beenden. Dieses Sicherheitsgefühl zu betonen ist sehr wichtig in der Arbeit mit Traumapatienten*innen.

Wie kann ich eine TSY-Stunde ausprobieren und wie genau läuft eine Stunde dann ab?

Es gibt eine Liste von Anbieter*innen in Deutschland, Österreich und der Schweiz, in der du nachschauen kannst, ob es ein*e TSY-Lehrer*in in deiner Nähe gibt. TSY wird sowohl einzeln, als auch in der Gruppe angeboten, was coronabedingt momentan nicht möglich ist. 

Eine Einzelstunde bietet eine gute Möglichkeit, für sich selbst herauszufinden, ob TSY eine passende Therapieform ist. Dort gibt es meist ein kurzes Vorgespräch, sodass ich als Lehrer eine Vorstellung davon bekomme, mit welchen Symptomen der*die Schüler*in zu kämpfen hat. 

Wie sieht eine typische Einheit im TSY trotz aller Individualität aus? 

Trotz der individuell erstellten Sequenzen für jede*n Schüler*in gibt es Grundhaltungen, in denen wir immer wieder innehalten und nachspüren können. Die Asanas werde meist im Stehen, aber am häufigsten im Sitzen ausgeführt, um den Praktizierenden die Möglichkeit zu geben, die Übung schnellstmöglich zu verlassen. Eine wichtige Grundhaltung ist die Berghaltung – Tadasana – im Sitzen. In dieser Asana können sich die Übenden immer wieder zurückziehen, nachspüren und die Reaktionen von äußerlichen Faktoren auf ihr Innerstes achtsam wahrnehmen.

Wir üben keine Haltungen im Liegen, denn so könnte der*die Schüler*in sich vielleicht ausgeliefert fühlen. Diese Reaktion wollen wir natürlich vermeiden.

Das Modifizieren ist sehr wichtig im TSY, weil es den traumatisierten Schüler*innen eine Wahl gibt, sich auf die Situation wirklich einzulassen, was sie bei dem traumatisierenden Erlebnis nicht hatten. 

Warum braucht es eine therapeutische Form des Yoga? Kann ich nicht die gleichen Effekte bei einer normalen Yogastunde erzielen?

Nein, so einfach ist es nicht. Auch wenn wir uns im Yoga viel mit unserem mentalen state of mind auseinandersetzen, fehlen in der klassischen Yogastunde die therapeutischen Ansätze, die es nun mal braucht, um mit traumatisierten Menschen umzugehen. 

Yoga ist niemals Ersatz für eine Therapie und Yogalehrer*innen sind keine ausgebildeten Psychotherapeuten*innen. Der*die Lehrer*in kann ja nicht in die Schüler*innen hineinschauen und weiß vielleicht nicht, was die Asanas bei den Einzelnen auslösen können. Neben den Asanas können auch die Art und Weise, wie die Stunde angeleitet wird, ein Trigger sein: Stimme, Bewegung oder Hands-On des*der Lehrenden können zu viel sein.

Trotzdem kann eine “normale” Yogapraxis sehr wohl als zusätzliches Hilfsmittel eingesetzt werden. Aber eine Therapie ist für Trauma-Patient*innen unumgänglich.

Wie bist du zum Traumasensitiven Yoga gekommen?

Ich habe selbst eine traumatische Erfahrung erleben müssen, die sich körperlich und mental später zu erkennen zeigte. Ich war in psychotherapeutischer Behandlung und habe gleichzeitig meine Yoga-Ausbildung angefangen. 

Ich dachte zunächst, dass mir Bewegung und auch die Ausbildung dabei helfen, das Erlebte zu verarbeiten. Doch merkte ich schnell, dass sich mein Trauma besonders bei der Yogapraxis bemerkbar machte. Bestimmte Asanas lösten Flashbacks und schwere Gefühle bei mir aus, weshalb ich sie nicht mehr ausführen konnte. Ich habe dann schließlich meine Therapie wieder aufgegriffen und eine zusätzliche Körpertherapie gemacht, durch die ich auch lernte, meine ganz eigenen Asanas zu erfinden. 

Dann habe ich von Dagmar Härle, der Pionierin von TSY-Yoga, gehört und bin für die Ausbildung bei ihr in die Schweiz gegangen. Jetzt bin TSY-Lehrer und mache zusätzlich noch eine Heilpraktiker-Ausbildung.

Nach unserem Gespräch haben wir eine Sequenz geübt, die Leander individuell für mich zusammengestellt hat.

Die langsame Ausführung hat mich zunächst etwas irritiert, doch hatte ich so die Möglichkeit, achtsam auf meinen Körper zu hören und in ihn hinein zu spüren. Ich war erstaunt, wie die von außen so leicht aussehenden Haltungen eine enorm intensive Reaktion in meinem Körper auslösen.

Ich kann zwar gefühlt eine Ewigkeit im Schulterstand stehen, aber sitzend einen Twist im Schulterbereich auszuüben, kann ich nicht einmal drei Atemzüge halten, ohne dass mich überwältigende Gefühle übermannen.

Durch das sehr achtsame Üben ist mir erst einmal klar geworden, wie viel mein Körper tagtäglich unterbewusst mit sich herumträgt. Ich war erleichtert, dass wir zwischen den Haltungen geredet und so die aufkommenden Körperreaktionen direkt reflektiert haben, sodass wir auch Asanas modifizieren konnten.

Traumasensitives Yoga heißt, eine Wahl zu haben.

Mir gefiel es, dass ich immer eine Wahlmöglichkeit von Leander erhielt, die er ganz ohne Erwartungen vorschlug. Er lud mich ein, wies mich aber nie an. Anders als in einer klassischen Yogastunde hatte ich nicht das Gefühl, auch mal aushalten zu müssen oder meine Grenzen auszutesten. Ich entschied in jedem Moment, was gut für mich ist und was nicht.

>> Du interessierst dich für eine Stunde bei Leander Graf? Hier findest du alle aktuellen Informationen zu seinem Unterricht.

Traumasensitives Yoga hat mein Selbstvertrauen und meine Selbstwirksamkeit gestärkt. Es ist ein Schritt für mich, wieder handlungsfähiger zu werden, sei es in konkret physischen Situationen oder auch auf mentaler Ebene. Die Yoga-Art birgt für mich die Chance, wieder freier und losgelöster Yoga zu üben. 

Ich hoffe, mein Artikel kann auch andere traumatisierte Menschen dazu bewegen, sich dieser Form von Yoga zu öffnen.

Alles Liebe

deine Valerie

Titelbild © L. B. via Unsplash, Fotos im Artikel von Nivata Yoga

 Weitere Informationen zu TSY und Trauma-Therapie

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