“Und dann dreht euch für Savasana alle um, so dass der Kopf Richtung Altar zeigt!” What? Wohin soll mein Kopf zeigen? Welcher Altar? Ungefähr so war meine innerliche Reaktion, als ich vor Jahren meine erste Jivamukti-Yogastunde besucht habe und der Lehrer diesen Satz sagte. Bis dato hatte sich meine spirituelle Erfahrung in Yogastudios auf willkürlich platzierte Buddhastatuen beschränkt, die ich mehr als Deko denn als Devotionalie betrachtet habe.
Nun sag, wie hast du’s mit der Religion?
Schnell fand ich heraus, dass das bei den Jivamuktis ein bisschen anders läuft: Vor den Klassen halten Lehrerin oder Lehrer einen spirituellen Talk; auf einem Altar wacht meistens die Statue einer indischen Gottheit und am Anfang und/oder Ende der Klasse werden Mantren auf Sanskrit gesungen.
Das, was ich am Anfang noch befremdlich fand, wurde relativ schnell zur Normalität und ich begann, mit viel Freude Kirtan zu besuchen, Ganeshas Bauch zu kraulen und mich den spirituellen Gedanken der Lehrerin oder des Lehrers hinzugeben – ohne mich aber wirklich genauer damit zu beschäftigen, was ich da gerade tue.
Aber irgendwann stellte ich dann doch die Gretchenfrage. Warum Shiva und Krsna ansingen, wenn ich es ansonsten nicht mal an Weihnachten in die Kirche schaffe? Was hat Gott denn in meiner Yogaklasse zu suchen?
Ist Yoga etwa eine Religion, der ich plötzlich angehöre, nur weil ich mich irgendwann dazu entschieden habe, regelmäßig den herabschauenden Hund zu üben?
Ich habe Antworten auf verschiedene Fragen in diesem Zusammenhang gesucht und auch welche gefunden.
Ist Yoga eine Religion?
Als ich meine Yoga-Ausbildung gemacht habe, hat mein Mentor zu mir gesagt: „Yoga ist eine lebensbegleitende spirituelle Praxis.“ Wow, dachte ich. Das klingt groß. Aber auch irgendwie gut. Nach mehr als „Yoga ist ein schönes, gesundheitsförderndes Hobby.“ Denn tatsächlich hatte es sich ja auch schon lange nach mehr angefühlt.
Ein kurzer Blick ins yogische Geschichtsbuch gibt noch ein bisschen mehr Aufschluss zur Frage, ob Yoga eine Religion ist:
Yoga gehört zu den sechs Darshanas, den zentralen Schulen der indischen Philosophie.
Dieses System ist ziemlich komplex und tiefgründig. Ein wichtiger Bestandteil ist, dass die Yoga-Philosophie als erste das Konzept von ishvara einführt, die ganz persönliche bzw. individuelle Vorstellung von Gott. Dein ishvara kann Krsna sein, Mohammed oder Jesus. Dem gegenüber steht brahman, eine abstrakte, allumfassende Form des Kosmischen oder Göttlichen.
Die wichtigsten Schriften der Yoga-Philosophie beziehen sich dementsprechend auf ein göttliches bzw. transzendentales Prinzip.
So sind etwa die Upanishaden das philosophisch-religiöse Fundament des Hinduismus und in der Bhagavad Gita spricht kein geringerer als Gott zum verzweifelten Krieger-Sohn Arjuna – in diesem Fall in der Gestalt Krsnas.
Für mich persönlich wäre es also Quatsch, so zu tun, als hätte die Yogapraxis keinerlei spirituellen Bezug. Stellt sich nur die Frage, wie sich dieser auf meine eigene Praxis und auch auf meinen Unterricht auswirkt. Kann es dann überhaupt noch legitim sein, nach einem höheren Bewusstsein zu streben, wenn ich Gott und Religion dabei komplett ausblende?
Muss ich an Gott glauben, wenn ich Yoga übe?
Ob ich an Gott glaube oder nicht war eine Frage, mit der ich mich früher höchstens weit in meinem Hinterkopf beschäftigt habe. Irgendwie war es ja auch egal: Bis auf Hochzeiten und mal an Weihnachten habe ich selten die Kirche betreten. Austreten kam aber irgendwie dennoch nicht in Frage. Irgendwas hat mich immer davon abgehalten.
Durch meine Yogapraxis wurde die Frage plötzlich präsenter.
Nicht in allen Yogastilen taucht das Göttliche regelmäßig auf, doch im Jivamukti Yoga ist es ein grundlegender Bestandteil.
Sharon Gannon und David Life, die die Methode begründet haben, gehen sogar so weit zu sagen, dass es ein elementarer Teil der Asanapraxis ist, sie Gott zu widmen. Das haben sie sich nicht ausgedacht, sondern sie berufen sich dabei auf Patanjalis Yoga Sutra.
Ich war mir aber nicht so sicher, ob ich an Gott glaube. Daher wollte ich erstmal definieren, was das Göttliche sein könnte. Und dann entscheiden, ob ich daran glaube oder nicht.
Das Göttliche – was ist das denn überhaupt?
Wie bereits erwähnt enthält die Yoga-Philosophie das Konzept von ishvara, von deiner ganz persönlichen Vorstellung des Göttlichen. Das bedeutet also: Keiner sagt dir, welche Gottesvorstellung richtig oder falsch ist.
Meine Überzeugung ist zum Beispiel: Jeder von uns möchte lieben und geliebt werden!
Das ist für mich die Grundlage allen Lebens und ich bin mir wirklich sicher, dass wir das alle verfolgen – mal bewusster, mal unbewusster.
Diese Überzeugung beinhaltet zwei Annahmen. Erstens: Liebe ist das Ziel. Und zweitens: Es geht uns allen gleich. Das ist für mich die praktische Umsetzung der abstrakten Einheit, die der Yogapraxis zugrunde liegt: Jeder will Liebe. Klingt kitschig? Ja, vielleicht. Aber hör doch mal in dich rein, betrachte deine Schwester, deinen Nachbarn, deine Katze oder deinen Hund. Geht es denen so anders?
Ok, wirst du jetzt vielleicht sagen, aber was ist mit dem Mörder, dem Terroristen oder auch nur der garstigen Chefin?
Die wirken ja im ersten Moment nicht wirklich so, als würden sie auf dem Liebespfad wandeln. Stimmt, denn was uns oft davon abhält, sind unsere Prägungen und Erfahrungen.
Diese sorgen dafür, dass der Weg dorthin seltsame oder auch negative Ausmaße annehmen kann. An dem grundlegenden Prinzip ändert das meiner Meinung nach aber nichts; nur der Zugang dorthin ist für manche schlicht nicht oder nur sehr schwer möglich.
Übrigens: Wir wollen nicht nur, dass uns jemand liebt, sondern wir wollen dieses Gefühl auch zurückgeben. Eine eigentlich selbstlose Handlung daraus machen. Genau das ist das, was die Schriften über Gott schreiben: Er oder sie ist selbstlos, frei von Meinung und Wertung, liebt alle.
Dieser Wunsch, zu lieben und geliebt zu werden, ist für mich der göttliche Anteil, den wir alle in uns tragen.
Es ist dir fremd, dir etwas Göttliches in dir vorzustellen? Ersetze es doch mal mit „etwas Universelles“ oder „das alle verbindende Prinzip“. Fühlt sich stimmiger an? Dann behalte das doch ruhig bei. Bei allem philosophischen und auch religiösen Fundament ist Yoga nämlich eines nicht: dogmatisch und rechthaberisch.
Falls dir das immer noch zu abstrakt ist, mach es noch praktischer:
Geht es denn auch ohne?
Es gibt unzählige Yogastile und im Laufe der letzten Jahrzehnte wurde natürlich auch die ursprüngliche Yogatradition adaptiert und an unsere westliche Welt angepasst.
Wenn du einfach nur Yoga üben möchtest, um zu entspannen, beweglicher zu werden und etwas gegen deine Rückenschmerzen zu tun, dann wirst du genau dafür das richtige Studio finden. Völlig ohne Spiritualität und Gottesbezug. Es gibt sogar Studios, in denen zu Beginn der Klasse nicht mal ein „Om“ gesungen wird.
Keiner ist ein besserer oder schlechterer Yogi, weil er an Gott glaubt oder nicht.
Möglicherweise wird es dir aber im Laufe der Jahre so gehen, dass ganz automatisch Fragen auftauchen. Denn durch das Üben von Asanas lösen sich Blockaden und Energie kann freier fließen.
Vielleicht ändert sich dadurch auch die Sicht auf manches und es entsteht ein Gefühl dafür, dass es noch etwas geben muss, das größer ist als wir selbst. Falls dieses Gefühl bei dir eintritt, ist dann vielleicht der richtige Zeitpunkt, um sich einem Yogastil zuzuwenden, der diesem Thema mehr Raum gibt.
Und falls bei dir dieser Moment nicht kommen sollte, auch fein. Dann würde ich dir dennoch gerne eine Sache ans Herz legen: Yogapraxis wirkt wie ein Verstärker.
Das, was wir mit auf die Matte nehmen und worauf wir uns ausrichten, wird im Laufe der Zeit größer und wir übernehmen es dadurch mehr in unser alltägliches Leben.
Yogis, die ihre Intention auf Gott, Liebe, das Universelle (you name it) ausrichten, erhoffen sich davon, diese Qualitäten in ihrem Leben größer werden zu lassen.
Die Hauptsache ist: Finde deine Intention!
Falls dir eine solche Intention schwer fällt, dann such dir doch eine andere, mit der du dich während deiner Praxis verbinden möchtest. Sie sollte von dir unabhängig sein und nicht nur deine eigenen Themen unterstützen. Zum Beispiel positive Energie für ein anderes Lebewesen, ein liebevoller Blick auf die nervige Kollegin, dein Versuch, Plastik zu vermeiden oder weniger Fleisch zu essen. Mach es am besten ganz praktisch.
Denn wenn wir eigennützige Motive mit in die Praxis nehmen, kann genau das gleiche geschehen: Auch die können größer werden, das Ego wachsen. Und letztlich ist das ja genau das, was wir nicht wollen: nicht noch mehr Drama, nicht noch mehr um uns selber kreisen.
Also entscheide du, auf was du dich fokussieren möchtest, egal ob in der Asana oder beim Meditieren.
Aber lass es etwas sein, worauf sich dein Geist gerne ausrichtet, weil es positiv ist, ohne eigennützig zu sein – egal ob du es mit Gott verbinden magst oder auch nicht.
Meine persönliche Antwort auf die Frage, ob Yogis zwingend an Gott glauben müssen, ist ein klares Nein.
Aber: Sie sollten ihre Praxis zu etwas größerem nutzen, als zur eigenen Bedürfnisbefriedigung. Also Werte wie Mitgefühl und Nächstenliebe kultivieren. Ob das Motiv dahinter ein fest verankerter Glaube ist oder nicht, das entscheidest nur du!
Nun, sag, wie hast du’s mit der Religion? Ich freue mich auf deine Erfahrungen und Kommentare!
Bis bald, deine Sabine
Titelbild © Olga DeLawrence via Unsplash
Ein Kommentar / Schreibe einen Kommentar
Sehr schöner Beitrag.
Ich bin aus der Kirche ausgetreten, hab mich aber schon öfter gefragt, ob meine intensive Beschäftigung mit Yoga vielleicht meine Art Ersatz für eine Religion ist. Denn wenn man an etwas glaubt, macht es das Leben schon oft einfacher. Ob das jetzt eine Religion oder Yoga oder was weiß ich ist, spielt allerdings finde ich so gar keine Rolle.
Alles Liebe
Julia
http://www.yogaandjuliet.com