Sharon Gannon traf ich das erste Mal in der letzten Woche meines Teacher Trainings am Chiemsee. Nicht nur in den zwei Wochen vorher hatte ich wahnsinnig viel von der Frau gehört, die die Yogamethode, zu der ich mich gerade ausbilden ließ, kreiert hatte. Ich hatte mir bereits unzählige YouTube-Videos mit und von ihr reingezogen, ihre Bücher gelesen, mich von ihrer Stimme von Band durch unzählige Yoga-Klassen Klassen leiten lassen und gefühlte 30.000 Geschichten über sie gehört.
Eines Tages war es dann soweit. Ein weißgekleidetes, elfengleiches Wesen mit blitzwachen Augen und schwarzen Haaren schwebte in den Essensraum, wo wir 60 Teacher Trainees gerade damit beschäftigt waren, Brokkoli, Kitchari und Salat auf unsere Teller zu schaufeln. Ein Raunen ging durch die Reihen. Manche wichen ehrfürchtig zurück, andere lächelten scheu und keiner wusste, wie er sich jetzt richtig verhalten sollte. Wie begrüßt man bitte Sharon Gannon angemessen, wenn sie plötzlich am Buffet neben einem steht? „Hi, Sharon? How was your flight?“
Ich muss zugeben: Im Gegensatz zu einigen meiner Mitstudenten brauchte ich eine Weile, um mit der Begründerin der Jivamukti Yoga Methode warm zu werden. Doch je mehr ich über Jivamukti Yoga lernte, teilweise von Sharon und David direkt, teilweise durch tolle Jivamukti-Lehrer in meinem Umfeld und vor allem von meinem Lehrer Moritz Ulrich, desto mehr verstand und schätzte ich die Methode, die ich mit großer Freude selbst unterrichte.
Selten habe ich Menschen erlebt, die sich mit solcher Konsequenz, Stetigkeit und Hingabe einem Thema widmen, das ihnen am Herzen liegt. Das hat großen Respekt verdient, fasziniert mich immer wieder und schreit nach einem Blick hinter die Kulissen. Ein Gespräch über Gott und die Yoga-Welt.
Vor über 30 Jahren haben du und David Life die Jivamukti Yoga Methode kreiert. Wie kam es zu all dem? Erzähl uns von den alten Zeiten!
Schon in meiner Jugend habe ich Bücher über Yoga Philosophie gelesen und regelmäßig meditiert; damals hatte ich mich aber voll und ganz der Kunst verschrieben. In meinen Augen war es Sinn und Zweck der Kunst, die Verbindung zu Gott zu stärken, also den Geist, das Herz und vor allem die Seele zu erfreuen.
Ich nutzte alle möglichen Medien, die mir zur Verfügung standen: Tanz, Musik, das Schreiben und die Malerei – und erforschte Wege, um das auszudrücken, was unendlich gut und schön ist, das, was Leid und alles Böse beenden kann. Schon als Künstlerin interessierte es mich nicht, mein kleines Ego-Selbst auszudrücken, das Alltägliche zu porträtieren, die dunklen Seiten des menschlichen Lebens oder sarkastisch unsere Kultur zu kommentieren. Ich nutze die Kunst, um die ewige Seele zu finden und Freude und Optimismus zu verbreiten. Zu Yoga fühlte ich mich hingezogen, weil es um die Verschmelzung mit dem Göttlichen ging, der absoluten Wahrheit.
Im März 1983 reiste ich mit meiner Band Audio Letter von Seattle Washington nach NYC, wo wir einige Gigs spielten. Unter anderem traten wir im Life Café an der Lower East Side auf, das damals David Life betrieb. Dort lernten David und ich uns kennen.
Kurz darauf zogen unsere Gitarristin Sue Anne Harkey und ich von Seattle nach New York City. Tagsüber arbeitete ich als Fahrrad-Kurier,so dass ich mich nachts der Musik und der Kunst widmen konnte. Eines Tages fiel ich die Treppe runter und brach mir die Wirbelsäule, genauer gesagt den fünften Lendenwirbel. Lange hatte ich starke Schmerzen und sogar Lähmungserscheinungen im rechten Bein.
Mein Job als Fahrrad-Kurier in den gefährlichen Straßen Manhattans war sowohl physisch als auch emotional anstrengend; ich war damals nur eine von zwei weiblichen Fahrrad-Kurieren in der ganzen Stadt. Ich kündigte diesen Job und begann im Life Café zu arbeiten: erst als Köchin und dann als Kellnerin. Meine Kollegin dort, Tara Rose, war nicht nur Kellnerin, sondern auch Yoga Lehrerin. Sie lud mich in ihre Yoga Klasse ein und meinte, sie könnte mir helfen, meine Rückenverletzung zu heilen. Ich folgte ihrer Einladung und sie sollte Recht behalten: Mein Rücken wurde besser.
Dann kam eines zum anderen. Ich begann Aerobic in einem kleinen Studio namens „The Body Electric“ zu unterrichten und David interessierte sich mehr und mehr für Yoga. Bis heute behauptet er, er wäre nur zum Yoga gekommen, um Zeit mit mir zu verbringen, aber das glaube ich ihm nicht wirklich. Aber egal, warum er mit kam, die Wahrheit ist: Es war unser gemeinsames Schicksal, uns kennenzulernen und das zu entwickeln, was heute als Jivamukti Yoga bekannt ist.
Was war das „Neue“ am Jivamukti Yoga?
Die Methode entstand eher zufällig. Immer wenn unsere Lehrerin Tara Rose nicht unterrichtete, besuchten wir Klassen anderer Lehrer in der ganzen Stadt. Damals in den 80ern war das gar nicht so einfach – es gab nicht so viele. In keiner der Klassen wurden die gesamte Philosophie bzw. alle Aspekte des Yoga unterrichtet. Der Fokus lag meist auf Asana. Die Übungen wurden als Workout und nicht als spirituelle Praxis gelehrt; sogar in Klassen, die in Ashrams stattfanden. Der wichtigste Aspekt im Yoga, die Hingabe an das Göttliche (bhakti), fehlte in allen Asana-Klassen. Yoga bedeutet, sich an Gott zu erinnern. Davon hörte man selten in Yoga Klassen, besonders nicht in Asana-Klassen.
Gewissermaßen wurden die traditionellen Aspekte des Yoga voneinander getrennt und in unterschiedlichen Kontexten unterrichtet. Es gab zum Beispiel Asana-Klassen hier, eine Morgenmeditation dort, einen Special-Kirtan-Abend jeden ersten Montag im Monat oder eine Bhagavad Gita Study Group einmal pro Woche. Von spirituellem Aktivismus hörte man nirgends etwas. Ich war schon damals Veganerin, setzte mich für Tierrechte ein und fand, dass sich Yoga und Aktivismus perfekt verbinden ließen.
David und ich wollten all diese Aspekte in einer Session zusammenbringen. So tauchten wir tief in die Lehre ein und entwickelten eine Methode, die mehr auf Einheit als auf Trennung ausgerichtet ist. Das scheint mir eher das zu sein, worum es im Yoga geht.
Jay Mac hat die Geschichte des Jivamukti Yoga verfilmt. Was hat sich im Laufe der Jahre verändert?
Im Grunde genommen ist die Methode immer noch die gleiche wie zu Beginn. Was sich verändert hat, ist, dass inzwischen viel mehr Menschen von Jivamukti Yoga erreicht werden. Es ist also nicht mehr nur „mein Ding“. Die Methodik des Jivamukti Yoga haben wir in Teacher Training Manuals und Klassenoutlines auf den Punkt gebracht. Die Methode ist inzwischen durch leicht verständliche Anleitungen zugänglich und Interessierte können sich Schritt für Schritt mit den Richtlinien vertraut machen. Wir geben sozusagen ein Gerüst, das viel Platz für kreative Interpretationen lässt und es den Lehrern ermöglicht, sich die Methode zu Eigen zu machen.
Nach so vielen Jahren: Unterrichtest du noch gerne?
Ja, ich unterrichte gerne. Yoga zu unterrichten, ist ein großes Privileg. Es ist eine stetige Herausforderung, die mich demütig bleiben lässt. Wenn du in der Rolle des Lehrers bist, merkst du, wie wenig du weißt – eine sehr inspirierende Angelegenheit: Du kannst gleichzeitig Schüler sein, viel lernen und mehr und mehr über die reichen, mystischen Praktiken erfahren.
Im Yoga geht es darum, das Ego zu transzendieren und Gott in allen Wesen zu erkennen.
Viele unserer Leserinnen wollen Empfehlungen für Teacher Trainings. Wie findet man die richtige Ausbildung?
Bevor du Zeit und Energie in eine Ausbildung investierst, solltest du herausfinden, ob du auch wirklich lernen willst, was in der jeweiligen Ausbildung unterrichtet wird. Das heißt: Recherchiere und mach dich mit dem Yogastil vertraut. Anders gesagt: Praktiziere die Methode und finde heraus, ob sie zu dir passt. Jivamukti Yoga ist ein sehr fordernder Stil und sicher nicht für jeden. Es wird als Weg zur Erleuchtung durch Mitgefühl mit allen Wesen unterrichtet. Frag dich am besten selbst: Bist du dazu bereit?
Was macht einen guten Lehrer aus?
- Eine gute Beziehung zu einem Lehrer. Ohne einen Lehrer ist es schwierig, Demut zu erfahren – zu spüren, was es bedeutet sich vor jemandem zu verneigen, sich hinzugeben. Ein guter Lehrer ist niemals arrogant oder urteilt über andere. Im Yoga geht es darum, das Ego zu transzendieren und Gott in allen Wesen zu erkennen. Demut spielt dabei eine Schlüsselrolle.
- Eine tägliche Praxis. Ein guter Lehrer ist ein guter Schüler. Eine regelmäßige Praxis beflügelt den eigenen Unterricht und sorgt dafür, dass er interessant und lebendig bleibt. Lehrer, die mit Herzblut und Begeisterung unterrichten, inspirieren andere. Niemand möchte bei Lehrern üben, die von sich selbst gelangweilt sind.
- Gute Lehrer mögen Menschen. Sie sind gerne in Gesellschaft, genießen es, anderen zu dienen, sie glücklich zu machen und sich um sie zu kümmern. Nicht alle Yogis sind so. Einige der weisesten Yogis sind Eremiten, die nicht gerne unter Menschen sind und auch kein Interesse daran haben, ihre Lehre weiterzugeben.
Was macht einen guten Schüler aus?
- Eine gute Beziehung zu einem Lehrer. Genauer gesagt, eine sattvische Beziehung. Das heißt: Der Schüler will von dem Lehrer mehr über Erleuchtung lernen – er will ihn nicht als Liebhaber, Affäre, Vater, Mutter oder Kumpel haben. Ein guter Schüler weiß, dass es nicht Aufgabe des Lehrers ist, sich um seine materiellen, sondern um seine spirituellen Bedürfnisse zu kümmern und ihm zu helfen, Hindernisse auf dem Weg zur Erleuchtung zu überwinden.
- Ein guter Schüler hört zu und ist bereit zu empfangen. Er respektiert den Lehrer und übt, was ihm beigebracht wird.
- Ein guter Schüler ist außerdem enthusiastisch, hat einen ausgeprägten Sinn für Abenteuer und ist keinesfalls faul.
Wie übst du? Und wie entwickle ich eine eigene spirituelle Praxis?
Meine spirituelle Praxis besteht darin, meine Gedanken auf Gott zu richten und so freundlich wie möglich zu anderen zu sein. Das ist ein Vollzeit-Job und passiert auf und jenseits der Matte.
Das Beste, um eine eigene Praxis zu entwickeln, ist es, sich an diejenigen zu halten, die den Weg schon vor dir gegangen sind. Lerne von jemandem, den du bewunderst und dem du vertraust. Orientiere dich an anderen, die für dich Yoga verkörpern.
Letzte Frage: Warum ist Jivamukti Yoga so erfolgreich in Deutschland?
Wegen der harten Arbeit, der unendlichen Hingabe und den liebevollen Bemühungen der ersten mutigen Jivamukti Yoga Schülern und Schülerinnen: Gabriela Bozic, Patrick Broome, Antje Schäfer, Michi Kern, Petros Haffenrichter, Anja Kühnel, Christian Walter und Moritz Ulrich, die alle Jivamukti Center in Berlin und München aufgemacht haben.
Vielen Dank, Sharonji, für das Gespräch.
Titelbild: Guzman via PR
Interview: Rebecca Randak
Übersetzung aus dem Englischen: Rebecca Randak & Moritz Ulrich