Es geht ganz schnell. Das Harmonium erklingt, nach wenigen Takten schwingt Karnamritas Stimme durch das große Festzelt des Xperience Festival in Bad Meinberg und ich werde still. Werde eins mit all den Schwingungen und Tönen. Mit dieser musikalischen Huldigung an das Göttliche.
Die Szene wächst: Immer mehr Yogastudios laden zum gemeinsamen Chanten aka Kirtan ein. Und die Musik ist auch von den Yoga-Festivals nicht mehr wegzudenken. Das gemeinsame Chanten öffnet das Herz. Und mehr noch, wenn ein Sänger oder eine Sängerin die feinen Stimmvariationen der klassischen indischen Musik beherrschen.
Heute gilt Karnamrita Dasi als eine der renommiertesten Kirtan-Sängerinnen weltweit. Ich habe mit ihr über Bhakti Yoga und die Magie des Kirtan gesprochen.
Was macht einen Kirtan zu einem guten Kirtan?
Der Geist und die Gemeinschaft der Menschen, die zusammenkommen, um gemeinsam zu singen. Wichtig ist der Geist, der Spirit, in dem gesungen wird. Verbinde ich mich über meine Stimme und die Worte, die ich singe mit etwas Höherem oder singe ich nur so vor mich hin? Was auch vollkommen in Ordnung ist. Doch beim Kirtan geht es darum, sich in der Gemeinschaft über die Musik zu verbinden. Miteinander und mit dem Universum, Gott, oder wie auch immer man es nennen mag. Ich bin dabei nur die Überbringerin.
Wie bist du zur klassischen indischen Musik gekommen?
Sie kam zu mir! Ich wuchs in einem Ashram in West Virginia, USA, mit Kirtan, Sanskrit und Japa-Meditation als täglicher Praxis auf. Meine Mutter war eine sehr hingebungsvolle Sängerin. Auch, wenn sie nicht immer perfekt sang: Sie benutzte ihre Stimme, um dem Göttlichen zu huldigen. Und das habe ich von ihr übernommen. In unserer Gemeinschaft sangen alle. Und niemand hat jemals zu einem anderen gesagt: „Oh, du kannst nicht singen.“ Die Entscheidung, klassischen indischen Gesang zu studieren, fiel aber erst viele Jahre später.
Habt ihr auch Hatha-Yoga praktiziert?
Nein. Wir haben einfach immer zusammen gesungen und meditiert. Wir waren einfach Bhakti-Yogis.
Du bist die erste westliche Frau, die in der klassischen indischen Tradition ausgebildet wurde. Wie kam es dazu?
Das war mehr oder weniger göttliche Fügung. Nach dem Tod meiner Mutter kehrte ich nach Indien zurück. Sie hatte mir immer gesagt: „Du musst singen.“ Aber ich wusste nicht, wie. Ich fand meine Lehrer, nachdem ich monatelang jeden Tag dem Kirtan im Tempel von Vrindavan (Anm. d. Red: Stadt Krishnas und wichtige Pilgerstätte für Bhakti-Yogis) lauschte. Irgendwann kam jemand und fragte: „Wer ist dein Lehrer?“ Ich sagte: „Niemand.“
Und dann wurde ich Schülerin des sehr bekannten Lehrers Pandit Vidur Mallick. Alle anderen Schüler waren Männer. Ich konnte damals noch kein Hindi verstehen und lernte durch das Zuhören seiner wunderbaren Interpretation der Dhrupad Ragas.
„Die klassische indische Musik hat mich tiefer berührt als alle andere Musik, die ich jemals gehört habe. Es war wie Medizin für meine Seele!“
Was ist dir am meisten aus deiner Zeit in Indien in Erinnerung geblieben?
Dass es beim Kirtan nicht um die Person geht, die auf der Bühne singt. Sondern um das, was durch sie hindurchfließt. Es geht nicht um die Performance, sondern um die Hingabe. Kirtan ist wie ein Gebet. Deshalb beginne ich meist mit Liedern, die meinen Gurus danken. Und allen, die vor ihnen kamen. Und uns nachfolgen werden. Die Magie dieser Tradition zu schreiben ist fast unmöglich. Man kann sie nur erfahren, erfühlen. Meine Lehrer haben wenige Worte benutzt und mir viel Raum zum Erforschen meiner Stimme und meines Selbst gelassen. Das hingebungsvolle Singen von Mantren kann dich in tiefe meditative Zustände bringen, die sehr heilsam sind.
Glaubst du, dass man durch Bhakti Yoga erleuchtet werden kann?
Das kommt ganz darauf an, was man unter erleuchtet sein versteht. Für mich ist es die Erkenntnis, dass wir eigentlich alle nur sehr temporär auf diesem Planeten sind. In einem Körper, der uns für diese Lebenszeit geschenkt wurde, ebenso wie alles andere Materielle. Was uns bleibt, ist unser Spirit. Und Kirtan kann uns definitiv dabei helfen, unseren Geist zur Ruhe zu bringen und uns mit diesem Teil unseres Seins in Kontakt zu bringen. Ebenso wie eine Yogastunde.
Kirtan hat das Potenzial, dass wir uns danach mehr genährt fühlen. Und mehr verbunden. Deshalb wünsche ich mir, dass mehr und mehr Menschen ihre Angst vor dem Singen loslassen und sich und ihrer Stimme einfach Raum geben. Am besten in den ganz frühen Morgenstunden, wenn die Sonne aufgeht und dein Geist noch ruhig ist.
Ich habe mich nach dem Kirtan mit Karnamrita und nach unserem Gespräch sehr genährt gefühlt.
Man könnte auch sagen: Blissed out. Vielen Dank für dieses wunderbare Gespräch, liebe Karnamrita!
Titelbild © Andre Wagner