Ich sitze endlich bei einem Erstgespräch mit einem Therapeuten und bin bisher erstaunlich gefasst dafür, dass ich gerade der x-ten fremden Person Einblick in die Tiefen meines Innenlebens gewähren muss. Bis der Therapeut mir die Frage stellt, was meine Einwände in Bezug auf die Behandlung sind. Da bricht es aus mir heraus: Meine größte Angst ist es, jemand anderem den Platz wegzunehmen, der diese Therapie viel nötiger hat als ich.
Denn ich habe doch kein Recht dazu, mich schlecht zu fühlen. Wenn es mir nicht gut geht, wem bitteschön denn dann?
Schließlich bin ich unglaublich privilegiert. Wie viele von uns, die diesen Text lesen. Wir, die ein Dach über dem Kopf haben, genug zu essen, ja wahrscheinlich sogar die Mittel, um im Bioladen einkaufen zu gehen. Wir, die uns die Mitgliedschaft im fancy Yogastudio leisten können und ständig neue Yogaleggings. Wir, die tolle, enge Freund*innen und und einigermaßen intakte Familienverhältnisse haben.
Habe ich das Recht darauf, unglücklich zu sein, trotz all der materiellen und emotionalen Fülle in meinem Leben?
Und trotzdem leiden wir. Manche von uns fühlen sich leer, ausgebrannt, andere sind einsam, oder zu wenig allein, wütend oder depressiv, ängstlich oder wollen sich endlich wieder frei fühlen. Generell sind viele derzeit in irgendeiner Art und Weise überfordert – unsere Gefühlswelten kommen in allen bunten Farben daher.
Mir ist aufgefallen, dass ich, bevor ich mit Freund*innen über meine Probleme spreche, inzwischen immer die Phrase “ich weiß, ich bin total privilegiert, und im Vergleich zu anderen geht es mir ja total super, aber…” oder “ich weiß, ich beschwere mich auf hohem Niveau…” vorne anstelle. Ich rede meine eigenen Probleme im Vorhinein klein und möchte meinem Gegenüber bloß vermitteln, dass ich mir meiner Privilegien auch bewusst bin.
Die negativen Gefühle und für uns schwierigen Situationen bezeichnen wir in diesem Zuge gerne als Luxusprobleme. Und bestimmt sind unter unseren Problemen auch solche dabei. Aber das ändert wahrscheinlich nichts daran, wie du dich jetzt gerade fühlst.
Check your privilege!
Ist ein Satz, den man in Debatten um soziale Ungerechtigkeiten oft hört, der aber auch in Verbindung mit “Luxusproblemen” gerne als Totschlagargument für Emotionen aller Art herangezogen wird. Aber eigentlich meint er etwas ganz anderes:
Der Begriff Privileg meint, dass wir einen Vorteil haben, zu dem wir nicht aktiv etwas beigetragen haben. Ein solcher Vorteil ist zum Beispiel, mit welcher Hautfarbe, innerhalb welcher Ländergrenze wir geboren wurden oder welchen familiären background wir haben.
Check your privilege ist kein Angriff, sondern vielmehr eine Aufforderung, uns unserer Vorteile, also Privilegien, bewusst zu sein. Darüber zu reflektieren, dass wir in einer ungerechten Gesellschaft aufgrund gewisser Merkmale bevorzugt behandelt werden im Gegenzug zu Menschen, die diese Merkmale nicht aufweisen und deshalb Nachteile erleiden. Zum Beispiel ist es ein Privileg, in einer rassistischen Gesellschaft aufgrund unserer äußeren Merkmale keine Diskriminierung erfahren zu müssen.
Check your privilege meint, dass wir uns unserer Privilegien bewusst sein, sie dekonstruieren und uns bereit erklären sollten, sie ein Stück weit abzugeben. Aber nicht, dass wir uns für die Privilegien, die wir haben, fertig machen und uns selbst unsere Probleme absprechen sollen.
Deine Probleme sind, bei allem Unglück in der Welt, nicht weniger real für dich!
Wir fühlen Schmerz und dürfen uns einräumen, diesen auch zu fühlen. Wenn jede*r nur noch im stillen Kämmerlein vor sich hin leidet, aus Angst vor der Verurteilung anderer, dann findet kein Austausch mehr statt. Das macht auf Dauer krank und trennt uns voneinander ab. Als ich vor kurzem sagte, mir fiele im Dauer-Homeoffice langsam die Decke auf den Kopf, unkte eine Freundin “Ja, ja, dir in deiner Kreuzberger Stylo-Wohnung. Ich muss noch jeden Tag zur Arbeit fahren!”
Individuell gefühlter Schmerz lässt sich nicht messen.
Er ist eben individuell und für die Person, die ihn fühlt, real. Egal, ob er von außen als klein oder groß eingeordnet wird. Wir dürfen also lernen, uns selbst und unser Gegenüber mit all dem sein zu lassen, was gerade da ist. Deine Freundin hatte eine dreiwöchige Affäre und suhlt sich in Liebeskummer? Vielleicht ist dein erster Impuls, das Problem abzuwiegeln und du denkst dir: Aber die beiden waren doch gar nicht richtig zusammen.
Statt Strenge und Ausrufe wie “Reiß dich zusammen” oder ‘“Diese Probleme hätte ich auch gerne!” können wir gerade alle eine Portion Sanftheit vertragen. Statt Urteilen braucht es Mitgefühl. Gerade jetzt müssen wir füreinander da sein, einander halten.
Lasst uns uns miteinander einen Raum kreieren, in dem alle Gefühle, der Schmerz, die Trauer, da sein dürfen.
In dem auch mal gejammert werden darf, was das Zeug hält, in dem auch die Probleme einen Raum haben, die wir selbst nicht nachvollziehen können. Schaffen wir einen safe space für uns und für andere, wo wir unsere Bedenken äußern können, ohne abgekanzelt zu werden, in und in dem wir niemandem die Berechtigung über die eigenen Emotionen absprechen.
Lasst uns einen Raum schaffen, in dem auch die schönste Freundin einen Tag haben darf, an dem sie sich unattraktiv fühlt. In dem die, die noch arbeiten gehen und lieber zuhause bleiben wollen, einen Platz haben. Den Leuten im Homeoffice darf die schicke Stuck-Altbau-Decke auf den Kopf fallen. Die mit der süßen Familie darf genervt von ihren Kindern sein. Der freie Single darf sich jemanden herbeisehnen.
Lass auch bei dir selbst alle Fünfe gerade sein und jedes Gefühl herein.
Stehe zu den Gefühlen. Sit with it. Lass alle Emotionen da sein, ohne sie zu unterdrücken, und ohne dich abzulenken. Wende dich an deinen safe space, um darüber zu sprechen. Schaffe durch deine eigene Transparenz und Offenheit einen safe space für andere, sodass diese ihre Bedenken und Gefühle offen äußern müssen, ohne die Gefahr, abgekanzelt zu werden. Gestehe anderen ihre Gefühle zu und sprich niemandem die Berechtigung am eigenen Kummer ab.
Denn alle Situationen sind unterschiedlich, und all feelings are welcome!
Dein Monatsmantra: Ich darf Probleme haben, egal wie groß oder klein sie erscheinen.
Titelbild © Jonas Kühne