Wenn ich noch einmal das Wort „unyogisch“ höre…

Disclaimer: Ich schreibe diesen Text aus der Perspektive einer weißen cis-Frau. Ich bin keine Antidiskriminierungsexpertin, sondern teile meine ganz persönlichen Erfahrungen mit dem Versuch, ein ally für Betroffene von Diskriminierung zu sein.

Im Herbst letzten Jahres bekam FLGH die Anfrage, ob wir bei einer Aktion namens #yogisgegenrechts mitmachen wollten. 

Es ging den Veranstalter*innen darum, ein Zeichen gegen eine gewisse Tendenz zu setzen, die sich seit den “Anti-Corona-Demos” in der Spiri-Szene breit zu machen scheint: Nämlich, dass manche Menschen sich mit allen auf die Straße stellen, die wie sie gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie sind, egal unter welcher (Reichsbürger*innen-)Flagge diese Leute unterwegs sind, frei nach dem Motto “der Zweck heiligt die Mittel.”

Es ging bei der #yogisgegenrechts Aktion darum, sich als Yogis gegen rechte Strömungen abzugrenzen, die scheinbar auch vor unserer Community nicht Halt machen, und sich für Diversität und gegen Rassismus zu engagieren. 

Wir waren sofort dabei und haben ein Video dazu geteilt. 

Die Resonanz aus unserer Community war überwiegend positiv, worüber wir sehr froh waren. Es gab aber auch Rückmeldungen, die in die folgende Richtung gingen: 

“Müsst ihr gegen irgendwas sein? Könnt ihr nicht für die Liebe und für die Einheit sein? Dagegen zu sein, ist doch nicht im Sinne von Yoga. Bitte, reißt doch keinen Graben in unsere wunderbare Yogi-Community.”

Mit Verlaub: Einfach nein.

Wenn mir irgendjemand nochmal sagt, irgendetwas sei aber “nicht yogisch”, dann schreie ich!

Ich liebe Yoga. Ich halte die Yogaphilosophie für unglaublich wertvoll als Richtlinie, speziell die Yamas und Niyamas, für ein besseres Leben voller Mitgefühl für sich selbst und andere. Was ich aber für eine häufige Fehlinterpretation der Sache halte, ist, dass die Welt eine bessere wird, wenn wir alle nur ganz doll nett zueinander sind, indem wir bestehende Unterschiede sowie Konflikte ignorieren.

Tatsächlich ist es nicht im Sinne der Yogaphilosophie, Leuten zu sagen, etwas sei “nicht yogisch” (…zu fliegen, Tiere zu essen, gegen etwas zu sein, Konflikte laut auszutragen, you name it). Darin steckt eine klare moralische Bewertung des Verhaltens anderer und damit ein Aufwerten des eigenen Egos: “Ich bin yogischer als du.”

Außerdem gibt es de facto eben “unyogische Dinge” in der Welt, die größer sind als wir: strukturellen Rassismus, strukturelle Unterdrückung aller, die nicht weiße Cis-Männer sind, Patriarchat, Kapitalismus, Kolonialismus, Klimakrise. Und diese kann man nicht so einfach mal wegmeditieren.

Es ist wichtig, diese Unterschiede anzuerkennen, die unsere jeweiligen Lebensrealitäten formen. Denn nur, wenn wir versuchen, andere wirklich zu sehen, mit all ihren Erfahrungen und Verletzungen, lässt sich echte Verbindung – Yoga – herstellen. 

Es wäre super, immer nur Licht und Liebe im Insta-Feed zu haben. 

Ich habe als weiße cis-Frau in Deutschland das Privileg, Nachrichten nicht gucken zu müssen, wenn ich “Unschönes” ausblenden will. Ich könnte gemütlich in meiner filter bubble sitzen und Ungerechtigkeiten in der Welt ignorieren, weil ich es selbst warm und gemütlich habe. Ich muss mir keine Sorgen machen, dass mein Bruder aufgrund seines Aussehens von Rechten auf der Straße zusammengeschlagen oder von Polizist*innen bedrängt wird.

Vor allem Licht und Liebe im Feed und im Blickfeld: So hatte ich es mir auch eine zeitlang eingerichtet. Aber irgendwann ging es nicht mehr.

“If you are neutral in situations of injustice, you have chosen the side of the oppressor. If an elephant has its foot on the tail of a mouse and you say that you are neutral, the mouse will not appreciate your neutrality.” – Bischof Desmond Tutu

Denn diese Ungerechtigkeiten betreffen mich trotzdem. Und zwar, weil es meine Verantwortung ist, sie aufzudecken. 

Eine gute Freundin sagte mir am 8. März, dem feministischen Kampftag, sie bliebe zuhause. Denn sie hätte keine Lust, wegen einer Sache auf die Straße zu gehen, gegen die sie sowieso jeden Tag ankämpft. 

Sie würde jetzt einfach mal wollen, dass hier die Männer die Initiative ergreifen und sich engagieren. Sie selbst versuche währenddessen, als weiße Person ein ally (englisch für “Verbündete*r”) für Betroffene von Rassismus zu sein, sich dahingehend zu informieren und antirassistische Arbeit zu machen. Denn die Täter*innen sollten diejenigen sein, die die Arbeit machen. Nicht die Betroffenen. Mir leuchtete das total ein. 

Abgesehen davon kommt es auf lange Sicht uns allen zugute, wenn wir strukturelle Diskriminierung abschaffen. Ein Beispiel: Auch Männer leiden unter dem Patriarchat, Stichwort: toxische Männlichkeit.

Es ist natürlich unbequem, ein ally zu sein.

Es scheint ein Kampf gegen Windmühlen. Sei es, weil man in der Yoga-Community manchmal auf stur lächelnde und nickende Menschen stößt, die einfach ignorieren, wenn man Missstände anspricht (Beispiel: Missbrauchsvorwürfe gegen Gurus).

Oder, weil der Onkel auch beim dritten Hinweis nicht verstehen will, warum seine Bemerkung sehr wohl rassistisch und kein “lustig gemeinter Witz” war.

Es ist anstrengend, Diskussionen anzufangen, statt einfach schweigend weiter den Obstkuchen in sich hinein zu schaufeln. Aber erstens ist es immer noch einfacher, als von struktureller Diskriminierung betroffen zu sein, und zweitens wird es leichter, je häufiger man sich einmischt und je besser informiert man ist.

Es ist an der Zeit, die high vibes only Mentalität ruhen zu lassen, bis es strukturell gesehen eine Basis dafür gibt (und das wird noch lange dauern).

Kurz gesagt ist es so: Wer ausschließlich nach dem Motto high vibes only lebt, macht sich die Welt vielleicht, wie sie ihm*ihr gefällt. Aber eben nur sich selbst. Und alles andere ist leider eine Illusion.

Bevor rassistische Polizeigewalt, strukturelle Diskriminierung, Marginalisierung einzelner Gruppen und othering nicht abgeschafft sind, ist es einfach nicht ok, zu sagen: “All lives matter”, oder zu glauben, dass alle gleich sind, sobald sie die Schuhe an der Tür vom Yogastudio abgestreift haben.

Vorher müssen wir Konflikte aushalten. 

Wir müssen aushalten, dass wir von Betroffenen für unsere Ignoranz kritisiert werden und dass diese sich Räume wünschen und schaffen, in denen wir ausnahmsweise mal nichts zu suchen haben. Wir müssen die Unterschiede anerkennen, die zwar vielleicht nicht dem Einheitsgedanken des Yoga entsprechen, aber sehr wohl (unbewusst) in unseren Köpfen und Gesellschaften existieren. Alles andere ist Ignoranz, Verleugnung und Verletzung der Betroffenen.

Die Arbeit, sich mit den eigenen Privilegien, internalisiertem Rassismus, Ableismus und Sexismus auseinanderzusetzen und anschließend Konsequenzen daraus zu ziehen, ist Schattenarbeit, in der es um das Erkennen, Entlarven und Aufbrechen von Strukturen geht, die uns zu dem gemacht haben, was wir sind. 

Und diese Schattenarbeit ist genauso schwierig und nötig, wie es die Auseinandersetzung mit den eigenen Mustern, Problemthemen und Traumata ist, die man in der Selbsterfahrung und durch spirituelle Praktiken betreibt. Besonders unbequem ist sie, weil sie vielleicht nicht eigene Verletzungen zu Tage fördert, sondern aufzeigt, wo wir uns selbst ignorant verhalten haben und wo wir von einem ausgrenzenden System profitieren. Aber ohne das Hinsehen werden wir leider nicht zu “Licht und Liebe”  gelangen. 

So wie ich bei der inneren Arbeit meine Schatten anschaue, möchte ich auch die dunklen Seiten den Systems beleuchten. Ich will hinsehen und ein ally sein. 

Bleibt nur die Frage: Wie? Auch das ist ein lebenslanger Lernprozess. Diese Ideen haben mich in den letzten Monaten dabei ein Stück vorangebracht:

  • Wir müssen anerkennen, dass es Ungerechtigkeiten in der Welt gibt, die nicht weg-meditiert werden können
  • Das heißt nicht, dass wir deshalb auf alle wütend sein müssen. Wir können auch mitfühlend auf Menschen zugehen, die vielleicht unabsichtlich solche “-ismen” wie oben genannt reproduzieren oder verdrängen
  • Wir sollten uns gut um uns selber kümmern und dürfen natürlich auch mal abschalten, aber sollten uns auch im Klaren sein, dass wir privilegiert sind
  • Wir müssen uns aktiv informieren und dürfen nicht erwarten, dass Betroffene immer den “Erklärbär” für uns spielen. Wir können Bücher lesen, entsprechenden Accounts (mehr Tipps siehe unten) und Menschen folgen und unsere filter bubble erweitern
  • Je besser wir Bescheid wissen, desto selbstbewusster können wir sein und etwas sagen, wenn wir Ungerechtigkeiten sehen oder auch einfach nur falsche/schlecht informierte Aussagen hören
  • Wir dürfen keine Angst haben, Fehler zu machen, wenn jemand uns auf unsere eigenen diskriminierenden Aussagen oder Verhaltensweisen hinweist. Statt defensiv zu werden, lasst uns offen sein für die Kritik und sie annehmen, um es in Zukunft besser zu machen
  • Gleichzeitig ist es wichtig, auch ablehnende Gefühle wahrzunehmen, die wir bei der Beschäftigung mit diesen Themen haben, auch das ist ein Hinsehen
  • Wir sollten respektieren, was eine betroffene Person zu dem jeweiligen Thema zu sagen hat – sie hat durch ihre Erfahrungen mehr Ahnung davon als wir
  • Keiner wird uns total feiern, nur weil wir einmal auf eine Black-Lives-Matter-Demo gehen. Wir müssen es aushalten, wenn wir kritisiert oder als privilegierte Menschen bezeichnet werden, die keine Ahnung haben, wie es ist, diskriminiert zu werden
  • Niemand stellt in Frage, dass auch du persönlich schon Leid erfahren hast oder selbst von verschiedenen Formen von Diskriminierung betroffen bist, aber es bringt nichts, diese Formen gegeneinander aufzuwiegen. Hier ist das Konzept der Intersektionalität der Schlüssel: Diskriminierung passiert nicht geradlinig, sondern ist ein verwobener Komplex. Schwarze Frauen erfahren beispielsweise eine andere Art von Diskriminierung als weiße Frauen oder Schwarze Männer. Um strukturelle Ungerechtigkeiten abzuschaffen, ist es also wichtig, dass wir alle Arten der Diskriminierung mitbedenken und anprangern, statt “nur auf einer Schiene” zu fahren 
  • Wir sind nicht alleine schuld an unserem eigenen diskriminierenden Verhalten, denn wir sind Teil des Systems und wurden dementsprechend geprägt. Aber wir haben die Verantwortung, das zu ändern
  • Es hilft enorm, sich hierzu mit anderen Menschen auszutauschen, die ebenfalls versuchen, ihre eigenen Privilegien zu hinterfragen und allies zu sein

Diese Arbeit an uns selbst ist es, die wirklich langfristig eine Veränderung herbeiführen kann. Engagement kann klar auch heißen, öffentlich Position zu beziehen, indem man ab und zu einen entsprechenden Post auf Social Media teilt, eine Petition unterzeichnet oder mal auf eine Demo geht. Vor allem muss aber eine wirkliche Beschäftigung mit den entsprechenden Themen passieren. Eine, die man von außen vielleicht nicht sieht.

Dieses Engagement führt uns schließlich tief in eine Auseinandersetzung mit unseren eigenen blinden Flecken hinein.

Und die spirituelle Praxis unterstützt uns dabei, dort hinein zu tauchen, den Schmerz der anderen anzuerkennen, in echte Verbindung zu gehen und damit zu einer einer kollektiven Heilung beizutragen.

Dein Monatsmantra: Ich habe die Kraft, den Schmerz der anderen zu sehen. Ich setze mich für eine gerechtere Welt ein und darf dabei auch Fehler machen.

Love and Light (Scherz! Nein im Ernst. Braucht man auch!)!

Uli

Titelbild © Andrew Donovan Valdivia via Unsplash

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