“Love and light” oder “good vibes only” – wie oft sehen wir solche Sinnsprüche auf Instagram unter dem Foto einer Person mit ätherischem Lächeln und elfengleichen Gesichtsausdruck. Sie fordert uns dazu auf, Glück, Liebe, Zufriedenheit und was weiß ich noch alles zu manifestieren. Was ich dabei denke: Manifestiere doch meinen Arsch.
Ich bin nämlich strunzgenervt von den Aufforderungen, weil bei mir gar nicht immer love and light angesagt sein muss. Ich will auch einfach mal in Ruhe schlecht drauf sein. Das war selbstredend nicht immer so.
Ich kann mich noch gut daran erinnern, als ich im Manifestationsrausch war.
Da habe ich Visionen entwickelt und mir ganz, ganz fest gewünscht, sie würden wahr werden. Meistens hatten sie mit meinem Erfolg zu tun, in welchen Bereichen des Lebens auch immer. Sei es im Yoga Unterrichten, das damals als zartes Pflänzchen anfing, in der Partnerschaft oder auch ganz profan in Gelddingen.
Jedenfalls waren sie äußerst selbstbezogen und hatten noch eine ganz andere Nebenwirkung: Ich hatte Angst, wenn ich etwas Negatives denke, würde auch das wahr werden. Das Ganze entwickelte sich zu einer Weiterführung meines magischen Denkens, das ich in der Zeit meiner Zwangsneurosen schon hatte: Damals dachte ich, wenn ich diese Unterhose anziehe, bringt mir das Glück. Dafür musste ich jedoch alle Unterhosen berühren, um diese eine zu finden. Und weiter ging es mit Kaffeetassen, Wasserflaschen, ach, you name it.
Was steckte dahinter? Das Gefühl, die Geschehnisse der Welt würden allein durch meine Handlungen bedingt. Damals hatte es einen traurigen Grund, warum ich diese Struktur sogar benötigte, aber zwanzig Jahre später sah die Sache ganz anders aus.
Ich würde mich damals als durchaus spirituell-arrogant bezeichnen.
Ich sah mich als Lichtbringerin und ja, ich betete auch jeden Abend „Lass mich dein Licht in die Welt bringen“. Natürlich betete ich auch für mehr Geld, damit ich diese neue Yogahose kaufen konnte. An was betete ich da eigentlich?
Es war ein diffuses Gottesbild oder Bild eines Universums, das wie eine liebe Mami oder Papi agiert: Es tut alles zu deinem Besten, alles hat einen Sinn und wenn du brav bist und auch ordentlich manifestierst und immer positiv denkst, dann wirst du von Mami und Papi belohnt.
Als ich mit Tantra begann, wurde mein Bild des Universums radikal auf den Kopf gestellt.
Lieblich? Wer die kopflose, furchterregende Göttin Chinnamasta aus der Tantra-Tradition kennt, schmunzelt darüber. Alles hat einen Sinn? Nur insofern, dass alles ein göttliches Spiel ist, was passiert. Das war‘s. Zero Sinn mehr. Und nein, es passiert nicht unbedingt alles zu deinem Besten, sondern es passiert einfach, weil das Göttliche sich eben genau so ausdrücken will. Verstehen musst du das das nicht, aber du kannst es akzeptieren und aus deinen Situationen lernen, aber mehr eben auch nicht.
Die Radikalität der originalen Tantraphilosophie zieht sich auch hinein in die Gedankenwelt.
Wenn alles das Göttliche ist, dann sind auch alle Gedanken göttlich, eben nur in mal mehr, mal minder kontrahierter Form. Dazu muss man wissen, dass die Annahme im non-dualen Tantra ist, dass das Universum quasi in Form pulsiert, mittels Kontraktion und Expansion.
Eine Kontraktion sind beispielsweise wir Menschen: In begrenzter, kontrahierter Form haben wir vergessen, dass wir durch und durch eins sind mit der Schöpfung, ein Teilchen des Kosmos und gleichzeitig das ganze Universum. Dabei ist unser Leben ein fantastischer Ritt zur Wiederentdeckung, oder kann es zumindest sein.
Auch unser Geist, unser citta, der Herz-Verstand, ist dabei göttlich.
Ein originaler Tantra-Text, der die ganze Chose mit der Wiedererkennung des Göttlichen in Form unserer Selbst wunderbar erklärt, ist das Pratyabbhijña-hrdayam Tantra, das „Herz der Wiedererkennung“. In dem Text und den Kommentaren, die der Autor Ksemarāja praktischerweise gleich mitgeliefert hat, geht es darum, wie das Göttliche sich in Form manifestiert, bis hin zu dem Punkt, wo es ein Mensch ist.
Anschließend beschreiben die Sutren den Prozess der Wiedererkennung, bis wir uns erinnern, wer und was wir sind – in diesem Körper und komplett präsent in dieser Welt. Sutra 5 des Textes erklärt uns, wie das hinsichtlich des Verstandes funktioniert:
“Citir eva cetana-padad avaruūdhaā cetaya-sankocinī cittam – Bewusstsein (citi), herabsteigend au seiner puren Form (cetana), wird kontrahiert durch die wahrgenommenen Objekte: Dies wird der Herz-Verstand (citta) genannt.” – Ksemarāja
Citta ist also einfach eine andere Form von göttlichem Bewusstsein, genauso wie H2O verschiedene Formen annehmen kann: Wasser, Eis oder Dampf.
Dieses Sutra beschreibt das In-Form-Kommen von unpersonifiziertem Bewusstsein zu personifiziertem Bewusstsein, also vom Göttlichen hin zu Dir. Schauen wir uns die verschiedenen Zustände einmal genauer an:
- Citi ist der Zustand, in dem das göttliche Bewusstsein vollkommen expandiert ist, also das Göttliche, das Universum, Śiva-Śakti, wie immer du es auch nennen magst
- Cetana ist das reine Bewusstsein, also der Raum zwischen den Gedanken – du als Wahrnehmende*r des Raumes zwischen den Gedanken
- Citta ist hier unser Verstand, aber auch unsere Emotionen, denn Emotionen und Gedanken sind im kontinuierlichen Wechselspiel miteinander und bedingen sich gegenseitig
Durch das Wiedererkennen und die Orientierung an Objekten wird der eben beschriebene Prozess angestoßen. Das kannst du ganz einfach testen: Wenn du zum Beispiel etwas, eine Situation oder jemanden anschaust, wie einen Baum, das blaue Meer oder Menschen, die sich innig umarmen, hast du Gefühle, Ideen und Konzepte dazu. Diese ordnest du ein, kategorisierst, und es kommen auch häufig Gefühle hoch, die wiederum erzeugen Gedanken (oder andersherum). Dann verflüchtigt sich der Eindruck, es entsteht eine kurze Pause und du denkst wieder an etwas anderes. Durch diesen Prozess verlagern wir das Gefühl von Ich in den Kopf, wir bewegen uns in den Grenzen unserer Kategorisierung, die von Präferenzen und Aversionen geprägt ist. Wir sortieren alles, was wir sehen, in unserem Verstand in saubere, kleine Schubladen und Schächtelchen und identifizieren unser Ich mit diesen inneren Schubladen.
Hier setzt die tantrische Praxis an.
Dabei ist das Ziel nicht, zu transzendieren und kontinuierlich im gedankenfreien Raum abzuhängen, denn das eine ist nicht besser wie das andere. Sondern Bewusstsein in allen Zuständen entwickeln.
Kommen wir auf das Beispiel vom Anfang zurück: Wenn ich denke, ich möchte am liebsten jemandem einen auf die Nuss geben, wenn ich ihn oder sie noch einmal „good vibes only“ sagen höre, am besten noch garniert mit einem verklärten Lächeln, dann kann ich mir bewusst sein, dass ich eine Aversion habe und hinterfragen, warum ich diese Abneigung habe. Weshalb ich (ver-)urteile, mich höher stelle und welche Gedankenkonstrukte dahinterstecken.
Du siehst: Bewusstsein zu haben, ist immer und in allen Zuständen the shit.
Es hilft dir, deine eigenen Grenzen auszuloten, mehr Akzeptanz zu entwickeln, dir und anderen gegenüber, nicht alles für bare Münze zu nehmen, was man so vor sich herumdenkt. Und es schenkt dir etwas wirklich Wunderbares. Nachdem ich Bewusstsein in oben beschriebener Form nun täglich seit einigen Jahren praktiziere, hat sich etwas entwickelt, was ich als tiefe, zufriedene Ruhe bezeichne, eine Basis, die selbst, wenn ich durchdrehe – und 2020 habe ich das ein paar Mal gemacht – nicht erschüttert.
Du brauchst ein Beispiel? Here you go: Medikamentenbedingt, durch eine zwingend erforderliche Schilddrüsentherapie, ging ich 2020 durch eine depressive Phase. Nichts hat mich aus dieser grauen Watte und der Traurigkeit, die mich umhüllte, herausgeholt. Aber ich wusste tief innendrin: Das bin nicht ich. Ich konnte akzeptieren, dass meine Gedanken Salto sprangen und immer wieder zur Traurigkeit zurückkehrten, gleichzeitig wusste ich, das ist nicht das, was ich wirklich bin. Das gab mir Kraft aufzustehen, weiterzumachen und dann Schritt für Schritt wieder Glück und Zufriedenheit in vielen kleinen Dingen zu finden.
Die intensive Praxis hat mir vor allem eines geschenkt: Die Freiheit, nichts mehr darstellen zu müssen, sondern einfach nur zu sein.
Und das ist vielleicht das Großartigste, was mir jemals passieren konnte.
Alles Liebe,
deine Sandra
Titelbild © Grit Siwonia
Buchtipp:
Über diese Serie:
In “Original Tantra” stellt dir Sandra jeden Monat die grundlegenden Begriffe der non-dualen Tantraphilsophie vor, z.B. das Weltbildes, die Schichten des Seins, die göttlichen Energien sowie die yogische Tantrapsychologie. Hier geht’s zur vorigen Folge.
Bei den mit * gekennzeichneten Links handelt es sich um Affiliate-Links. So erhalten wir eine kleine Provision, wenn du ein Produkt kaufst.
Das könnte dich auch interessieren:
- Ende Januar gibt Sandra einen Goddess Workshop zu Kālī, in dem tantrische Aspekte beleuchtet werden, ergänzt von einer tantrischen Kālī Praxis.
- Du willst mehr? Dann steige im Februar in Sandras Touristenbus ein und erhalte im Tourist Guide into Tantra eine Einführung ins Tantra!
- Shanti my a**: Vom Recht auf schlechte Laune