Was heißt denn schon erfolgreich? Mein Abschied von der Arbeitswut

Ich bin so unglaublich müde und das, obwohl ich echt nicht viel mache. Die Telefon-Dates mit den so vermissten Liebsten werden rar, einen Arbeitstag im Homeoffice beende ich selten nach 17 Uhr und mit weniger als neun Stunden Schlaf komme ich am Morgen gar nicht erst aus dem Bett. Und das kratzt ganz schön doll an meinem Selbstwert.

Trotz der ungemeinen Belastung, der wir alle ausgesetzt sind, habe ich ein schlechtes Gewissen, weil ich “nicht produktiv genug” bin.

Ich verurteile mich selbst, faul und unnütz zu sein, wenn ich ohne vermeintlich guten Grund an den meisten Tagen keine Kraft habe, mehr als das Allernötigste zu machen. Wann haben wir eigentlich angefangen, unseren Selbstwert an unsere Leistungsfähigkeit zu knüpfen?

Schon als Kinder bekommen wir ganz oft die Frage gestellt: “Was willst du denn mal werden?” 

Wir sind mit den Ansprüchen groß geworden, dass wir alles werden können, was wir nur wollen. Aber wir müssen schon etwas wollen, erreichen wollen, vor allem beruflich – egal was, Hauptsache etwas leisten wollen. Unterbewusst sind wir alle darauf gedrillt, dass unsere Existenz nur dann von Wert ist, wenn wir etwas “Großes” damit anfangen: Kinder in die Welt setzen, Karriere machen oder uns selbst verwirklichen. Wir müssen uns unseren Platz in der Gemeinschaft erst verdienen – das wird uns eingeimpft.

Und so kommt es, dass wir uns extrem damit identifizieren, was wir tun und in die Welt bringen. Im selben Zug nehmen psychische Erkrankungen wie Depressionen, Angststörungen und Burn Out massiv zu – gerade unter jungen Erwachsenen, und zwei Drittel aller Schulkinder gaben in einer Studie von 2020 an, sich mindestens ein Mal die Woche gestresst zu fühlen.

Wir sind in dieses kapitalistische Leistungssystem hineingeboren und werden dort erstmal nicht herauskommen.

Klar, außer wir entscheiden uns dazu, raus aus der Stadt und mitten ins Nirgendwo zu ziehen, unser Essen und all das, was wir brauchen, selber anzubauen und herzustellen. Doch selbst für die Verwirklichung dieses Aussteiger*innen-Traums braucht es nunmal Moneten, Zaster, Knete… you name it. 

Also suchen wir nach einem kleinen Ausgleich, mit dem wir den stressigen Alltag für einen kleinen Moment hinter uns lassen können, oft in Form von Dingen, die das kapitalistische System wiederum befeuern. So hetzen wir in letzter Sekunde vom Bürostuhl auf die Yogamatte, nur um dann mal 90 Minuten lang so richtig zu entspannen. Wir fahren aufs jährliche Digital Detox Retreat um uns daran zu erinnern, wie wertvoll die Welt ohne Smartphones ist, nur um die guten Vorsätze im nächsten WhatsApp Chat über Bord zu werfen. 

Ich merke am eigenen Leib, wie tief der Leistungsdruck verankert ist. 

Ich habe mich zwar gegen eine Festanstellung und für das Freelancer-Dasein und den Job bei Fuck Lucky entschieden, und mir so ein ein ziemlich flexibles Leben aufgebaut. Der Anspruch, produktiv sein zu müssen, offenbart sich hinterlistig in anderen Bereichen meines Lebens. Darin, wie ich meine Freizeit gestalte, wie hoch mein Yogapensum zu sein hat und wie viele Bücher ich schaffe zu lesen. Hauptsache, ich stelle etwas sinnvolles mit meinem Leben und der Zeit auf dieser Welt an.

Ständig erzählen wir uns gegenseitig, wie müde, gestresst und ausgelaugt wir sind. Von der viel beschworenen Work-Life-Balance ist nur dann die Rede, wenn sie fehlt und ein Runterkommen erlauben wir uns erst, wenn wir vorher ordentlich geschuftet haben.

Selbst nach einer anstrengenden Woche will die Zeit am Wochenende auch noch bis ins kleinste optimiert werden, weil wir denken, die hart erarbeitete Freizeit müssen wir möglichst sinnvoll nutzen – was wiederum Freizeitstress erzeugt. 

Es ist fast so, als würden wir uns Pausen erst dann einräumen, wenn wir bereits total am Ende sind. 

Im Lockdown zuhause wird das ganze noch schlimmer, denn einen Ausgleich zur Arbeit gibt es kaum noch. Nicht wenige müssen nach ihrer Lohnarbeit noch Care-Arbeit verrichten und ihren Rollen als Erzieher*in, Pfleger*in, Lehrer*in und Köch*in gerecht werden. Und wo bleibt ein klitzekleines Löchlein, um einfach man selbst sein zu dürfen?

Wenn wir nicht für eine Firma arbeiten, die uns ausnutzt, dann sind wir ganz gut darin, uns selbst auszubeuten – im Namen der Selbstverwirklichung. 

Weil wir Sachen so gerne machen oder fest an Projekte glauben, verkaufen wir uns regelmäßig unter Wert und arbeiten am Limit. Wie oft flattern Anfragen in mein Postfach, ob ich einen Artikel for free schreiben kann, weil die Leute hinter dem Projekt so toll sind und es für einen guten Zweck ist. Wie viele von uns sich schlecht bezahlen lassen für ein sogenanntes Herzensprojekt. In der Yogawelt ist es ohnehin gang und gäbe, trotz teurer Ausbildungen zu lächerlich niedrigen Preisen zu unterrichten, weil man ja erstmal “einen Fuß in die Tür” bekommen muss. Und es macht ja Spaß.

Klar, diese Projekte, in denen wir uns selbst verwirklichen können, statt schnöder Lohnarbeit nachzugehen, wollen wir alle gerne machen. Die Gefahr dabei: Wir über-identifizieren uns mit dem, was wir machen, statt damit, wer wir sind. So lassen wir uns schlecht bezahlen und stürzen regelmäßig in tiefe Sinnkrisen. 

Ich arbeite gerne, klar. Ich bin super happy mit meinem Beruf hier bei Fuck Lucky und ich unterrichte von Herzen gerne Yoga. Würde ich aber vier Klassen pro Tag unterrichten und bei Fuck Lucky vierzig Stunden am Schreibtisch sitzen, würde ich in kürzester Zeit ausbrennen. Was ist, wenn ich das alles so nicht will? 

Wer hat eigentlich gesagt, dass unser Leben nur von Wert ist, wenn wir vermeintlich erfolgreich sind? 

Vielleicht ist es okay, keine Karriere machen zu wollen und Arbeit nicht als Lebenskern zu verstehen. Könnte der Sinn des Lebens nicht darin liegen, produktiv und erfolgreich zu sein, und stattdessen darin, das Leben verdammt nochmal zu leben? Und zwar mit all dem, was es zu bieten hat? Mit all dem, was hinter der 40- bis 50-Stunden-Woche liegt? 

Ich wünsche uns allen mehr Zeit zum Spielen, zum Entdecken und Zeit, um einfach da zu sitzen und an eine weiße Wand zu schauen. Vielleicht muss das Rad sich nicht immer schneller drehen, muss es nicht immer höher, schneller, weiter gehen. Sondern stehen bleiben. Lebenswertes gibt es so so viel. Ich will immer “ja, ich habe Zeit” sagen können, wenn Leute mich auf einen Kaffee einladen.

„Faul sein ist wunderschön! Und dann muss man ja auch noch Zeit haben, einfach dazusitzen und vor sich hin zu schauen“ – Pippi Langstrumpf

Erst, wenn wir genügend Zeit und Raum bekommen, kann sich unsere ganz eigene Magie, die uns allen innewohnt, entfalten. Wir merken, was uns im Leben noch Freude bereitet, abseits der so sorgsam zurecht gezimmerten Erfolgs-Version unserer Selbst.

Das wird einige vor den Kopf stoßen, weil wir ja alle unter diesen Voraussetzungen und mit diesen Erwartungen aufgewachsen sind. Sich bewusst gegen Karrierestreben und für mehr lebenswertes Leben zu entscheiden, heißt auch, mit den Denkmustern, die die Gesellschaft an uns stellt, zu brechen. Es ist ein Akt der Rebellion, das alles so nicht mehr zu wollen und das Leben für uns selbst zu beanspruchen. 

Das heißt nicht, dass ich gar nicht arbeiten will – aber Erwerbsarbeit ist eben nicht die absolute Erfüllung meiner Existenz.

Wenn ich so etwas sage, habe ich Angst davor, faul zu klingen. Aber ich und wir alle können unsere Arbeit gerne machen, und trotzdem anderen Dingen einen ebenso hohen Stellenwert im Leben einräumen. Wir dürfen Sinn in unseren Tätigkeiten erkennen und ihnen trotzdem nur 30 Stunden unserer Woche widmen – wenn es uns nur allen möglich wäre. Die meisten von uns können es sich nunmal nicht leisten und ich habe in diesem Artikel leider auch keine schnell umzusetzende Lösung dafür parat.

Ich weiß nur, dass das Leben, wie wir es jetzt führen, uns auf Dauer kaputt, krank und unglücklich macht. 

Dass wir nicht alle von heute auf morgen aussteigen können, ist klar. Unternehmen müssen endlich kapieren, dass die 40 Stunden Arbeitswoche und der Schwachsinn des Präsenzzwangs unmenschlich sind und sich mit einem erfüllten Leben nicht vereinbaren lassen.

Manche von uns können sich vielleicht aussuchen, für welches Unternehmen sie arbeiten. Und viele von uns können sich entscheiden, ihr Wertesystem zu überdenken: Wenn du zu den Gutverdienenden gehörst, kannst du schauen, worauf du verzichten kannst, wo du weniger konsumieren und deine Fixkosten und Lebenskosten senken kannst, um nicht mehr in Arbeitswut zu verfallen, um die steigenden Rechnungen zu begleiten.

Wir können kollektiv daran arbeiten, unsere Definition von Erfolg zu überdenken und aufhören, Leute dann zu feiern, wenn sie an der Belastungsgrenze arbeiten. 

Wir dürfen uns an die Tätigkeiten erinnern, die wir gerne machen, wenn wir nicht gerade arbeiten, und diesen, soweit möglich, mehr Raum geben. So können wir uns daran erinnern, wer wir abseits unseres Arbeits-Ichs sind und sein wollen. Und wir müssen ganz dringend lernen, öfter nein zu sagen und Grenzen zu ziehen. 

Dein Monatsmantra: Ich muss mir meine Existenz nicht erst verdienen. Es reicht, dass ich da bin.

More boundaries for everyone!

Sheila

Titelbild © Sheila Ilzhöfer

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