Wir leben in einer Welt und Gesellschaft, in der es Gang und Gäbe ist, unser Leben und unser Sein – unsere Daseinsberechtigung? – über den Job zu definieren. Zu allen möglichen Lebensstadien werden wir danach gefragt.
Ein 5-jähriges Kind bekommt bereits zu hören: Was willst du denn mal werden wenn du groß bist? — Fast jede Begegnung läutet ein mit: Und, was machst du so?
Unsere Arbeit ist Dreh- und Angelpunkt unserer Selbstdefinition.
Wahrscheinlich liegt auch hier der Hund begraben, warum unsere Generation sich nicht mehr mit dem sprichwörtlichen Brötchenjob zufrieden gibt oder geben kann, sondern sich jetzt (auch) beruflich selbstverwirklichen will.
Als ich nach sieben Jahren Studium in Berlin, der Blase der ehemaligen Träumer und heutiger Start-Upper strandete, mit natürlich allerlei Ideologien, Ideen und Visionen, war sie wieder da, diese Frage nach meinem Tun.
Ich hatte immer allerlei Dinge gerne und gut getan, mich aber anhand dessen nie auf mein Sein festlegen können.
Auf der Suche nach dem verbindenden Glied fand ich schon vor Jahren meine Antwort. Es gab einen “Job”, der mir schon von Kind auf gefiel und mir imponierte; ich aber immer zweifelte, ob man sich selbst diesen Titel geben dürfe. Und wie albern es wahrgenommen werden würde.
Bei einer relativ aufdringlichen Barbekanntschaft damals frisch in Berlin traute ich mich: “Ich bin Muse.”
Wie erwartet Irritation und der suchende Blick, ob ich scherzte. Als dieser leer lief, spulten all die Klischeevorstellungen ab, die wir heute von der Muse haben.
Die Muse des Künstlers. Eine Frau, die sich körperlich hingibt und den Mann zu großartigen Werken inspiriert; selbst aber eigentlich nichts macht als die Beine breit und sich fast schon aushalten lässt. Eine Art schmarotzende Hure. Jemand sagte einmal zu mir: “Eine Muse ist doch nichts weiter als eine Künstlermatratze.”
Menschen, die – sagen wir – romantischer eingestellt sind, bilden die Idee eines beinahe schon mystisch anmutenden Wesens von sagenumwobener Eleganz und Schönheit. Eine Frau mit hoher Intelligenz und gewisser Unerreichbarkeit.
Gerade der letzte Punkt löst eine unstillbare Sehnsucht aus, aus der, wie wir wissen, häufig kreativ geschöpft wird. Durch die aufrecht gehaltene Distanz entsteht eine Idealsphäre, die guten Boden für allerlei Projektionen bildet; fern von Alltag und schnöder Realität.
In beiden Fällen ist das ein Verständnis zumeist doch eher männlicher Fantasie. Und Ergebnis einer Vorstellungsmetamorphose von über zweieinhalbtausend Jahren.
Der Musenbegriff und die Musenerscheinung fußen im antiken Griechenland.
Die Musen der ersten Stunde waren die neun Quellnymphen; Schwestern und natürlich Töchter des hyperumtriebigen Zeus. Sie waren die Schutzgöttinnen der Künste und atmeten Dichtern und Musikern ihre Lieder und Ideen ein. Als Dank wurden sie mit Gedichten und Gesängen geehrt.
In der Antike gab es die Überzeugung, dass die Inspiration nicht aus einem selbst käme, sondern immer göttlichen Ursprungs sein müsse, und so wurde man im gegeben Fall von der Muse geküsst.
Dass das dem Christentum und seinem heiligen Geist gar nicht schmeckte, verwundert kaum und so verschwand die Muse eine lange Zeit von der Bildfläche. Bis sie als Frau aus Fleisch und Blut im 19. Jahrhundert wieder auftauchte.
Aber was ist es, das Frida Kahlo, Madame Cézanne und Yoko Ono gemein haben? Ist es nur die Nähe zu großen Künstlern, die eine Muse zu einer Muse macht? Was bedeutet es denn, eine Muse zu sein?
Wenn wir an die Herkunft der Muse zurückdenken, so ist sie vor allem eins: Quelle.
Sie ist Ursprung von Inspiration und Schöpfung. Durch ihr Sein und ihre Hingabe unterstützt sie und hilft Projekte (im weitesten Sinne) zum Blühen zu bringen.
Das wiederum bedeutet, dass unsere Welt voll von Musen steckt. So viele Frauen – und auch Männer! – die ihre Partner*innen und andere geliebte Menschen mit Herzblut auf ihrem Weg begleiten. Häufig leider ungesehen, unbedankt und unbesungen.
Dafür werden andere umso mehr gefeiert und bejubelt: Insta-Influencer sind jetzt schwer im Kommen; ach was sag ich; sie sind all over the place und inspirieren (vermeintlich?) die Massen.
Sind Influencer etwa die Musen der Moderne? Wenn dem so wäre, könnten wir uns vor Musen kaum noch retten.
Wir müssten sie gar nicht mehr ersehnen, sondern einfach nur noch unser Handy bemühen und hätten eine nicht enden wollende Auswahl sich anbiedernder Musen.
Angesichts all dieser Vorstellungen, Entwicklungen und des eigenen inneren Gefühls habe ich mich also gefragt, was die Muse heute eigentlich bedeutet – und warum ich mich als solche begreife oder begreifen möchte. Folglich ist das Kommende superlativ subjektiv.
Musen sind geschlechtsneutral.
Musen entsprechen keinen Schönheitsidealen.
Musen funkeln.
Musen sind stark.
Musen sind kein Abziehbild.
Musen stehen in Verbindung zum Göttlichen.
Musen inspirieren andere zum wahrhaften Selbstausdruck.
Musen sind selbst inspiriert.
Musen pflegen eine enge menschliche Bindung zu ihren Nächsten.
Musen erfahren in irgendeiner Form Bewunderung.
Musen strahlen ein erotisches Moment aus.
Musen haben Humor.
Musen sind intelligent.
Musen können sich dem Genuss hingeben.
Musen lieben und werden geliebt.
Meine Musen haben Vulven und Penisse. Ich habe nicht mit ihnen geschlafen.
Sie sind dick und dünn. Sie sind einzigartig. Und mir nah. Ich kenne sie eben so gut, wie sie mich kennen. Ich persönlich glaube nicht an die Idealisierung und Mystifizierung, die nur durch Distanz aufrecht erhalten werden kann und am Ende des Tages nur Verzerrung und Enttäuschung bringt.
Und vor allem SIND sie. Ich kann sie nicht definieren über ihr spezielles Tun. Vielleicht sind sie von Beruf Zahnärzt*in, vielleicht sind sie Brötchenverkäufer*in. Sie vibrieren und strahlen aus.
Wir leben in einer Welt, die nach wahrer Inspiration und nach Authentizität lechzt. Lasst uns Musen werden und sein. Lasst uns zulassen, dass unser Muse-Sein auch gesehen wird. Lasst uns eigene Musen finden und unsere Musen besingen.
Lasst uns nicht gegenseitig fragen, was wir machen. Sondern was uns beschäftigt.
Was unsere Werte und Träume sind. Uns einander erkennen, lieben, weinen und schlussendlich lachen. Der Pathos und die Poesie leben hoch, hoch, hoch.
Titelbild © Ivan Bertona via Unsplah
Ein Kommentar / Schreibe einen Kommentar
Liebe Katha, was für ein schöner – und ja, sehr inspirierender ! – Artikel! :-)
Obwohl ich bei Musen intuitiv auch eher an ein mystisches (ggf. weibliches) Wesen denke, räsoniert deine Beschreibung oben total mit mir! Und natürlich gibt es viele Menschen, die mich inspirieren (unabhängig vom Geschlecht) und ich merke, dass ich oft ganz viele neue Ideen aus Gesprächen mit Menschen ziehe, die mir wirklich nah sind. Gleichzeitig kann ich mir aber auch selbst eine Muse sein – z.B. wenn ich journale und meine innersten Gedanken hervorkommen lasse! :-)
Hach, das ist ein echt schönes Thema! Danke für deinen Input!