Der Einlass zur Orgie des Hedoné Seminars gleicht der Eröffnung des angesagtesten Clubs Berlins. Die Kapelle der Lust hat geladen: Ein Zelt, das absichtlich an eine große Vulva erinnert. Alles drängt sich und schließlich penetriert ein Teil der Schar die heiligen Pforten der Geschlechtlichkeit. Die Farben Rosa und Rot herrschen, Fotografien des weiblichen Schoßes zieren den Altar der Muschi-Kirche und anstelle des gemarterten Jesus hängt eine riesige Klitoris von der Decke.
Reichlich Haut berührt bereits die Nächste. Das Licht ist schummrig, der Raum knapp. Viele Menschen neugierig erregt auf das, was gleich passieren wird. Die Teilnehmer*innen sind heiter bis leicht nervös. Gekicher ist zu hören, die umherschweifenden Blicke deutlich spürbar.
Wir sind hier, um miteinander Sex zu haben.
Aber erst mal wieder auf Anfang. Eine 3-stündige Busfahrt bringt mich vom Berliner Hipsterleben zum hedonistischen International; zum Hedoné Seminar – ein alljährliches Happening, das der Lust und der Liebe frönt. Kurz hinter der polnischen Grenze wollen wir gemeinsam Grenzenlosigkeit erfahren.
Wir wollen den Hedonismus in seiner Reinstform erleben; ein Wochenende in Rausch und Braus verleben. Auf dem Menü stehen Selbsterfahrung, Musik und sexuelle Eskapaden. Carpe Diem scheint jedem auf die Stirn geschrieben zu stehen.
Willkommen im Freudenhaus
Umgeben von wildem Mischwald steht ein fürstliches Gutshaus, das seine besten Tage schon gesehen hat, uns aber mit genau diesem morbiden Charme der Vergänglichkeit verzaubert und in seinen Bann zieht. Die Räume sind blumenreich und goldverziert. Im Obergeschoss stehen überall große Betten. Nein, geschlafen werden darf hier nicht, wird mir erklärt.
Zwei sich paarende Plüsch-Einhörner im Dunkel des Treppenhauses von einer riesigen Discokugel beschienen sind ein perfektes Sinnbild des Hedoné. Hier geht es um Phantasien und deren Verwirklichung. Um Andersartigkeit und Toleranz, um achtsamen Umgang miteinander. Um Feiern und um Sex. Willkommen.
Wir durchqueren das Anwesen und der Blick erschließt sich auf eine beeindruckend weite Steintreppe, so mächtig wie man es sonst von Bildern der Maya-Tempel kennt. Zu ihren Füßen ein großer, wiederum von Wald und Wiese umgebener angelegter See. Ein Seufzer entfährt meiner Brust. “Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein.”
Der Hedonismus und seine Verunglimpfung
Hedoné begreift sich als Künstlerbewegung mit dem Ziel, den sonstigen Klischees der Spaßgesellschaft einen „ethischen Hedonismus“ entgegenzusetzen. Denn „Hedonist*innen“ verstehen wir heutzutage als egozentrierte Lustwandler ohne Rücksicht auf Verluste. Ihre Dekadenz sprengt jegliches Maß und vergisst das Gestern sowie das Morgen. Einzig wichtig ist der eigene Genuss und sei er auch noch so flüchtig. Soweit zumindest die weitverbreitete Ansicht.
Interessant dabei ist das schon in der Antike gegensätzliche Verständnis vom Hedonismus, dessen Ziel allein die Seelenruhe darstellte, die entstand, wenn für sich selbst alle wichtigen Fragen des Lebens geklärt worden waren.
Dieser tiefe Frieden, auch Ataraxie genannt, galt als die höchste aller Lüste.
Schön, oder? Und doch sind der Freudentänzer zum realitätsfernen Taugenichts und das “Luder” (lat. ludere für spielen, Spaß haben) zur Hure geworden.
Der Verein Hedoné plädiert in einem ethischen Hedonismus für eine Bewegung, die sich selbst, aber auch anderen Freuden verschaffen will und zeigt Verantwortung für sexuelle Offenheit, indem er sich als NGO gegen Genitalverstümmelung von Frauen engagiert.
Ihre Waffen im Kampf der Lust sind erotische Kunstausstellungen, bewusstseinsschaffende Seminare und feuchte Feten.
Zurück zur Gegenwart. Uns werden die Programme gereicht. Die nächsten zwei Tage wollen wir für das Leben lernen – von früh bis spät gibt es Seminare rund um Körperbewusstsein, einvernehmliches Miteinander und Sex. Sonnabendabend steht von neun bis zehn eine Orgie auf dem Plan. Oha. Das Interesse ist groß und die Teilnahmebereitschaft ungestüm.
Und ja, im Grunde sind alle Workshops Vorspiel für die große Fete Samstag Nacht. Wir sollen uns selbst und einander besser kennen lernen. So soll es sein und so ist es auch.
Wir starten den Tag mit altgriechischen feengleichen Tänzen, lernen später in einem Workshop, unsere Bedürfnisse und Grenzen klar zu kommunizieren, abgelöst von angeregten Gruppendiskussionen wie eine Orgie nun auszusehen hat und wie nicht. Die Tage sind lang und aufregend und dankbar genieße ich diese zwischenmenschliche Freundlichkeit, wie sie nur in solchen Paralleluniversen herrscht. Wir alle fühlen uns willkommen und angenommen.
Ein Trip der Nächstenliebe.
Freitagabend lassen wir zu blumigen Grooves noch ein wenig die Hüften kreisen; um eins herrscht Stille. Die Nacht wird zum Schlafen genutzt, um morgen fit zu sein. Für die weiteren Seminare – aber auch für die große Eröffnung, für die Orgie und für die Party.
Der Samstag verläuft ähnlich, man beginnt einander zu kennen. Tauscht Lebensgeschichten und Triviales. Viel Zeit zum Ausruhen ist trotzdem nicht. Wieder jagt ein Programmpunkt den anderen und der Nachmittag ist dem Selbstputz gewidmet.
Generation Glitzer
Am frühen Abend finden wir uns alle gemeinsam am See wieder. Es ist feierliche Eröffnung. Dem angesagten Dresscode entsprechend stehen wir alle in lichten Gewändern. Nur weiß, beige, silber und gold sind erlaubt. Und nackt natürlich. Mindestens 5 Jahrespackungen Glitzer wurden im Schmückraum auf die Schar verteilt. Unsere Köpfe sind gekrönt von selbstgebastelten Blumenkränzen.
Ehre denen, denen Ehre gebührt: Uns allen.
Es ist eine irreale Szenerie, wie wir uns neo-griechisch gesellen, die ersten Sektkorken knallen lassen und ich spüre wie Dionysos, der Gott des Weines, der Erneuerung, der Fruchtbarkeit und der Ekstase sich auf uns hernieder lässt.
Weihrauch-Fackeln umkreisen uns. Reinigen uns. Erheben uns. Zelebrierend wird ein Text verlautet, auf dem das Hedoné seine Grundmanifeste errichtet. In diesem Zustand der Gemeinschaft lassen wir die alte Ordnung los, vergessen, wer wir gestern waren und gehen tranceartig in das Kollektiv über.
Die Prozession hat begonnen.
Und endlich ist es soweit. Die im Programm bereits angekündigte organisierte Orgie steht an. Teilnehmen dürfen allerdings nur jene, die an einem der Konsens-Workshops teilgenommen haben, um etwaigen Grenzüberschreitungen und Derartigem zu begegnen und vorzubeugen. Ein prächtiger Ansatz.
Let´s orgy!
Zu Beginn soll jeder für sich entscheiden, ob er oder sie in der sexuellen Gewohnheit eher dominant oder passiv ist. Ich stehe auf Kippe und entscheide mich für passiv. Alle sich dieser Kategorie zugeordneten sind darauf aufgefordert, das Zelt zu verlassen.
Als wir nach kurzer Zeit wieder eintreten, steht da ein Wald von vorrangig Männern, vorrangig nackt; die Augen verbunden. Wir haben die Rollen getauscht und nun war es an uns Passiven, die Initiative zu ergreifen und den Mensch im wahrsten Sinne zu be-greifen. Ich lasse mich auf das Doktorspielchen ein und beginne Gefallen daran zu finden.
Meine Fingerspitzen gleiten sachte über den Nacken eines Mannes und ich stelle mich nah von hinten heran und beginne mit ihm zu atmen. Nach dieser ersten Runde sind wir angewiesen zum Sitzen zu kommen. Die Blinden werden wieder zu Sehenden und nun dazu eingeladen, uns Passiven Angebote der Berührung zu machen.
Ich lasse mir zärtlich das Gesicht küssen.
Ein Mann bietet mir in betont sexy Stimme seine Küsse an. Mir geht das etwas zu schnell und spüre wie allmählich Unwohlsein in mir hochkriecht. Vielleicht ja aber nur mein Ego oder die Angst vor neuen Erfahrungen, denke ich mir. Ich will offen sein. This is the time of my life höre ich Dirty Dancing in mir zischeln.
Ich verneine meinen Mund, lasse mir stattdessen zärtlich das Gesicht küssen. Aber ich kann mich nicht fallen lassen. Der nächste fragt, ob er meinen Busen berühren darf. Ich lehne ab und wir schauen uns einfach an, bis er weiterzieht. Der Liebste kommt und ich falle ihm sitzend in die Arme. Gefühle von Hilflosigkeit sind in mir aufgestiegen, Gefühle der Überforderung und auch des Allein-gelassen-worden-seins und ich bitte Volker, bei mir zu bleiben.
Nach diesen zwei Übungen ist der Raum geöffnet und nun ist Freestyle angesagt.
Und doch, obwohl wir in den Seminaren über Erwartungsfreiheit sprachen, uns einig waren, dass beispielsweise Penetration kein obligatorischer Bestandteil einer Orgie sein muss, dauert es keine fünf Minuten, bis rechts und links von mir alle Hüllen gefallen sind und Männer in Frauen oder Männer eindringen.
Schwülstige Klischee-Sätze fallen, die ersten Popo-Klatscher tönen und wiederum keine fünf Minuten später ist Mann wieder runter und zieht weiter. Die Frau liegt noch auf dem Rücken, nackt und wirkt unbeholfen.
Ein Schmerz durchfährt mich und ich fühle die Tränen steigen.
Diese Beschreibungen sind selbstverständlich ultimativ subjektiv und vielleicht Projektion, aber es war ein Punkt erreicht, da ich gehen musste. Draußen atme ich erstmal durch. Meine Gedanken rasen und das Gefühlschaos ist zunächst unüberschaubar. War ich doch prüder als ich dachte? Hatte ich nicht gewusst, worauf ich mich da einlasse? Zunächst machen sich allerlei Selbstzweifel breit in meiner Brust.
Ich laufe noch einmal durch das Haus und beobachte wie durch eine Glasscheibe das fröhliche Treiben. Im oberen Tanzsaal sind Massen von wuschelweichen Federn verteilt worden und ausgelassen spielen die wunderschönen Menschen miteinander und der Kulisse. Es sieht großartig aus.
Ich habe das Gefühl, hier einen wundervollen Raum der natürlichen Begegnung und Körperentdeckung frei von Performance zu erleben, kann das Energielevel aber nicht mehr erreichen. Der Samstagabend endet für mich zeitig und im Streit mit Volker, dessen Erwartungen durch mich enttäuscht worden waren.
Vom sexuellen Stress-Syndrom
Der Schmerz, den ich fühlte, galt uns allen. Den Frauen, die trotz aller Emanzipation und Zur-Stärke-zurück-finden noch immer Sex mit Gemocht-werden verwechseln. Den Männern, die glauben, einem höchst potenten Bild von Männlichkeit entsprechen zu müssen.
Uns allen, die wir zwar Kinder der sexuellen Revolution sind, aber deswegen noch lange nicht sexuell frei, sondern uns in einer Sphäre des sexuellen Drucks befinden, in der wir mit Freizügigkeiten und Wahlmöglichkeiten bombardiert werden, es uns aber an Weisheit fehlt, verantwortungsvoll mit dieser Öffnung umzugehen.
Eine resultat- und (leider) nicht prozessorientierte Einstellung zu Sex.
Und klar, wir alle befanden uns in einem Umfeld, da freie Liebe nicht nur als Ideal sondern als gegebene Tatsache angenommen wird und so ein ganz eigenes Wertesystem und ja, auch Peer-Pressure entsteht.
Wir wollen ja schließlich auch alle frei von Eifersucht, frei von Besitzergreifen und frei von Unsicherheiten sein. Wollen Einheit verspüren, frei von Diskriminierung und frei von Trennung. Nach dem Motto:
Fake it till you make it.
Und ja, ich rede in Tendenzen und nicht in Pauschalen. Jede*r hat seine ganz eigenen intensiven Erfahrungen gemacht und vielleicht war alles eh nur Spiegel meiner eigenen Befindlichkeiten.
Wenn ich vergleichsweise an „Saturday F*** Fever“ im Insomnia, FKK-Saunaclubs in Stadtrandgebieten und all die Orgien-Szenen aus den Pornos denke, so glaube ich, dass der Raum, den das Hedoné eröffnete, einzigartig und auch magisch war in seiner Motivation und Aufbereitung.
Wenn ich an Orgie denke, so reizt mich vor allem der Raum dazwischen.
Mir wurde dennoch einmal mehr klar, was ich von Sex erwartete. Was ich mir erhofft hatte in meiner Phantasie.
Ich wünsche mir ein Aufbauen von Energie und Lust. Ein neugieriges Vorantasten, wie wenn man Jemanden neu kennen lernt, sich verknallt und gespannt jede körperliche Annäherung beobachtet. Diese zart provoziert; nie ganz im Klaren ob es erwidert wird. Dann ein Blick der tiefer geht. Ich will Elektrizität; zusammen einen Raum der unbändigen Lust schaffen, in dem es unmöglich wird, sich nicht zu berühren, sich nicht zu küssen, nicht übereinander herzufallen und dann in diesen Raum heiß und innig eintreten.
Ein schönes Nachspiel
Der Sonntag auf dem Hedoné Seminar war gütig und küsste uns mit viel Freiraum, fröhlichen Beats draußen am See und angeregtem Austausch über die letzte Nacht. Volker und ich hatten uns den Morgen genommen, über all unsere Gefühle und Gedanken zu sprechen und gaben uns später auf einem Boot auf dem See einander hin.
Als das zu unbequem wurde, zogen wir auf eine Liegewiese abseits der Tanzfläche um und erfreuten uns an der körperlichen Selbstverständlichkeit, die wir verspürten. Als wir darauf vielfach frivol anerkennend angesprochen worden, wunderten wir uns, warum Sex am hellichten Tag dort überhaupt so viel Aufmerksamkeit bekam. Als der sechste auf mich zukam, fragte ich ihn. Seine Antwort war denkbar simpel:
„You guys made love.“
Wir hatten Liebe gemacht. Und das war etwas Besonderes.
Das Hedoné Seminar ist ein einzigartiges Laboratorium der Lust und Liebe mit wunderschönen Zielen und Werten. Wir alle sind ein Stück schlauer, schöner und offener nach Hause gefahren und auf so viele Weisen berührt worden. In tiefer Dankbarkeit verneige ich mich vor all den wundervollen Menschen, die diese Spielwiese ermöglichen und uns in eine Zukunft der Einigkeit geleiten, die vielleicht schon morgen Gegenwart sein wird.
Titelbild © Ansgar Schwarz
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Hi, ich fand den artikel sehr gut & befreiend,
Besonders das hier!
„Mir wurde dennoch einmal mehr klar, was ich von Sex erwartete. Was ich mir erhofft hatte in meiner Phantasie.
Ich wünsche mir ein Aufbauen von Energie und Lust. Ein neugieriges Vorantasten, wie wenn man Jemanden neu kennen lernt, sich verknallt und gespannt jede körperliche Annäherung beobachtet. Diese zart provoziert; nie ganz im Klaren ob es erwidert wird. Dann ein Blick der tiefer geht. Ich will Elektrizität; zusammen einen Raum der unbändigen Lust schaffen, in dem es unmöglich wird, sich nicht zu berühren, sich nicht zu küssen, nicht übereinander herzufallen und dann in diesen Raum heiß und innig eintreten.“
Jetzt fühle ich mich so als währe ich schon auf allen orgien der welt gewesen und kann tatsächlich eine glückliche 1 zu 1 partnerschaft weiterführen (in der ich seit 6 jahren schon bin, jetzt mit kind, bahaha)
Woooow, danke für deine Offenheit!!! Ich war zwar nicht da, habe aber schon ähnliche Veranstaltungen mit ähnlichen Gefühlen verlassen, unfähig, diese so weise zu reflektieren und letztendlich zu akzeptieren. Dabei hat dieser Artikel sehr geholfen <3
Liebe Helene, das bedeutet mir so viel. Ich danke dir für dein herzliches Feeback und „Mitgefühl“ :) <3
### Liebste HelenA – Tippexcursion… verzeih ;)
Hi my name is Rogelio Rodriguez Pacheco. I’d like to get information about your initiative as I got interested to be participant and member of this beautiful movement. Unfortunately I miss the chance to assist yesterday as I’m working as a volunteer in Italy.
Dear Rogelio,
well it is not my initiative, I am also just lucky to participate and to co-create some things within Hedoné. But they are always open and greatful for ambitious people to join the movement. Just contact them best via their website: https://hedone.berlin/
Much Love
Katha