Dürfen Yogis Kohle machen?

Ich werde in meinem Job dafür bezahlt, anderen Unternehmen Marketing-Software zu verkaufen. Je erfolgreicher ich das tue, desto mehr Geld verdiene ich in Form von Provisionszahlungen. Wertemäßig ist das manchmal eine ziemliche Herausforderung für mich und ich frage mich immer wieder, ob ich als spiritueller Mensch, der die Welt verbessern will, eigentlich so mein Geld verdienen darf.

Was muss, das muss. Aber…

Als Kind war Geld für mich ein komisches Konzept. Die Erwachsenen hatten es (scheinbar automatisch) und konnten mir davon Dinge kaufen. Auch heute kommt mir Geld manchmal sehr seltsam vor. Aber klar ist: Ich muss es mir verdienen, es landet nicht von selbst auf dem Konto und das Leben als erwachsener Mensch ist teuer.

Ich stehe mir gern selbst im Weg, wenn es darum geht, Gehälter zu verhandeln, Beförderungen anzustreben oder auch nur morgens den Weg ins Büro zu schaffen. Auch bei anderen Menschen, die eine eher spirituelle Ausrichtung haben, ist mir Ähnliches aufgefallen.

Geld als Antrieb fürs Leben scheint uns Spiris nicht ganz zu überzeugen.

Wenn wir Yoga praktizieren, betonen wir Einheit, die Gleichheit aller und den Verzicht auf alles, was wir nicht brauchen. So passen finanziell getriebene Karriereambitionen und Spiritualität auf den ersten Blick wirklich schlecht zusammen. Die größten Schwierigkeiten habe ich dabei, die folgenden Gegensätze in mir zu vereinen:

  1. Ich definiere mich häufig selbst über meinen Job – und das daraus resultierende Selbstbild passt nicht zum Freigeist im Kopfstand, der weltlichen Gelüsten den Rücken gekehrt hat.
  2. Eine erfolgreiche Karriere zu haben, egal ob als Angestellte*r oder durch den Aufbau eines eigenen Unternehmens, bedeutet auch, sich in Kreise zu begeben, in denen Geld im Mittelpunkt steht bzw. es sehr viel um die Finanzen geht. Auch das fordert mein eigenes Wertesystem heraus.
  3. Das Ding mit den Idealen: Ich wünsche mir eine Welt, ein System, in dem nicht jedes Mal woanders jemand ausgebeutet wird, wenn ich profitiere. Ich träume von einer Welt ohne Gier. Trotzdem agiere ich als Zahnrad in einem defekten System, wenn ich in meinem Vertriebsjob eine Software verkaufe, die anderen Unternehmen wiederum bei ihrem Marketing hilft.

Diese Punkte aufzuschreiben hat Kraft gekostet und mehr als nur ein paar Tage gedauert, denn ich musste mich mit ihnen auseinandersetzen, sie aus meinem dunklen Unterbewusstsein an die Oberfläche und auf ein Blatt Papier bringen.

Ich kann auch als spiritueller Mensch meinen Platz auf der Karriereleiter finden

Trotz allem habe ich meinen Job nicht gekündigt, und auch dafür gibt es ein paar Gründe.

Ich brauche das Geld 

Auch spirituelle Menschen haben Hunger und Vorstellungen davon, wie sie leben wollen, wohin sie reisen wollen und wen sie finanziell unterstützen möchten.

Meine Praxistipps:

  • Eine Affirmation, die mir hilft, meine eigenen Wünsche und Bedürfnisse zu honorieren lautet: „Ich verdiene es, in Fülle zu leben.“ Das fühlt sich am Anfang komisch an, aber warum eigentlich? Wir verdienen alle ein Leben in Fülle – jeder einzelne Mensch, auch du!
  • Budgetplanung: Was brauchst du im Leben, um dich wohl zu fühlen? Was ist dein monatliches Yoga-Budget, was kostet die nächste Reise nach Indien, was kostet dein Essen, deine Wohnung, was legst du für die Rente zurück? Die Bedürfnisse aufzulisten macht es leichter, sich das Geld dafür dann irgendwo abzuholen.

Raus aus den Silos 

Wir können voneinander lernen: Bei unserem letzten Salesteam-Dinner habe ich mich stundenlang mit meinem Chef über Immobilieninvestitionen unterhalten.

Das Thema war surreal für mich, weil ich mir nicht vorstellen konnte, irgendwann einmal etwas so riesengroßes wie eine eigene Wohnung zu besitzen. Durch die Unterhaltung habe ich aber gelernt, dass das gar nicht so unrealistisch ist.

Im Gegenzug habe ich ein „Lunch and Learn“ zum Thema Vipassana-Retreats gehalten, durch das meine Kollegen*innen jetzt um die Möglichkeit des zehntägigen Schweigens wissen, das mein Leben so grundlegend verändert hat.

Praxisfragen: Was kannst du von den Menschen um dich herum lernen? Was traust du dir selbst nicht zu, das sie erfolgreich geschafft haben? Welche deiner Interessen möchtest du teilen?

Doppelagent spielen

Ich verneige mich vor jeder Person, die „dem System“ den Rücken kehrt. Gleichzeitig glaube ich auch, dass Veränderungen von innen vorangetrieben werden können. Ich arbeite in meinem Job, weil ich mir mit dem Geld persönlich Wünsche erfüllen kann, aber auch, weil ich glaube, das Leben im Büro ein kleines bisschen beeinflussen zu können.

Einer meiner Kollegen spricht beispielsweise mit mir über seine Schlaflosigkeit und Angstzustände und ich fühle mich geehrt, für ihn da sein zu können.

Praxisfragen: Inwiefern bereicherst du Kreise, die dem Spiri-Leben fern scheinen? Welche Verhaltensmuster vermisst du dort, und wie kannst du sie vorleben?

Geld bedeutet Einfluss

Wenn ich mehr verdiene, kann ich Organisationen und Unternehmen unterstützen, hinter deren Werten ich stehe. Mir hilft es, einen Teil meines Geldes zu spenden, Fair Trade Bananen zu kaufen, faire Mode zu tragen. All das ist teuer und ich bin sehr dankbar, hier entsprechend meiner Ideale konsumieren zu können.

Spirituelles Wachstum durch Konfrontation

Wenn ich mich nur mit Menschen umgebe, die genauso denken wie ich, bleibe ich da hängen. Durch den ständigen Austausch mit der Business-Welt wachse ich, denn jeden Tag wird meine Weltsicht herausgefordert und geprüft.

Praxistipp: Gib nicht auf! Wachstum ist nicht immer angenehm, wie wir als Yogis wissen. Genauso, wie herausfordernde Asanas und andere Praktiken dich weiterbringen, helfen auch unangenehme Gespräche und ungewohnte Situationen dabei, den Geist reifen zu lassen.

Noch etwas ganz Wichtiges zum Schluss

Ich habe mich neulich gefragt: Sollte ich die anderen überhaupt in Schubladen stecken und urteilen? Je besser ich Menschen kennenlerne, die nach steilen Karrieren und satten Bankkonten streben, desto mehr verstehe ich, dass dahinter oft keine „leeren“ Werte stehen. Im Gegenteil: Jeder hat seine eigene Mischung aus hoch komplexen Gründen und Glaubenssätzen dafür, dass er lebt, wie er lebt.

Mich nicht abzugrenzen, wenn oberflächliche Handlunsgsmuster meiner Mitmenschen augenscheinlich nicht zu meinen eigenen passen, ermöglicht es mir, das Phänomen Mensch und somit mich selbst besser zu verstehen.

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Ein Kommentar / Schreibe einen Kommentar

  1. Für mich klingt dieser Text ein wenig rechtfertigend, was den „westlichen“ Lebensstil betrifft. Und mit der Affirmation „Ich verdiene es, in Fülle zu leben“ könnte ich mich nicht anfreunden. DENN dass ich in Deutschland, einem reichen Industriestaat geboren bin, hat für mich etwas mit Zufall/ Glück zu tun. Es ist aber nichts was ich mir verdient habe!!! Es wäre schön, wenn alle Menschen in einem Wohlstand leben könnten, wie es hier in Deutschland und eben für viele Yogis hierzulande möglich ist. Es ist aber unrealistisch, denn der durchschnitts-deutsche ökologische Fußabdruck lag im Jahr 2016 bei 3,1. D.h. würden alle Menschen so leben wie wir, müsste es die Erde 3,1 mal geben. Es können also gar nicht alle Menschen in der Fülle leben, wie wir es tun. Ob wir das können ist Glück/ Pech, je nachdem wo wir geboren wurden. Ich selber wohne mit meinem Mann in einer Wohnung im Mehrfamilienhaus (alleinstehende Häuser verbrauchen deutlich mehr Energie), habe nicht mal ein Auto, esse kein Fleisch, versuche fast nur noch faire Produkte zu kaufen etc. etc. wie so viele Yogis, reise aber halt auch gerne, wie so viele Yogis… Und gerade daher komme ich auch nicht besser weg als der Durchschnitt hierzulande. Ich empfehle wirklich mal jedem den ökologischen Fußabdruck zu machen, auch den ökologisch bewussten Yogis (www.fussabdruck.de) und sich dann nochmal zu fragen, ob der eigene Lebensstil etwas ist, dass man sich verdient hat? Ich selber bin dankbar für das Leben, was ich leben kann und habe auch ein eigenes yogischen Spendenprojekt, weiß aber auch dass es nicht möglich sein wird, dass nach jetzigem globalen Bevölkerungsstand, alle so leben könnten wie ich. Dafür reicht die Erde nun mal nicht aus!

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