Selbstfürsorge: Wie wir uns besser um uns selbst und andere kümmern können

Als meine Tochter etwa drei Monate alt war, lag ich in der Badewanne und fragte mich, ob ich mich nicht doch geirrt hatte mit meiner Kritik an Menschen, die auf Instagram Schaumbäder ernsthaft als Selbstfürsorge anpriesen. In diesem Moment schien mir das heiße Badewasser, das meinen vor allem als Baby-Versorgungsstation funktionierenden Körper umschmeichelte, als großer Segen. 

Selbstfürsorge. Für mich ein Lebensthema. 

Vor allem, weil es mir oft nicht gelingt, mich selbst zu priorisieren und meine Bedürfnisse zu erfüllen. Gerade deshalb ärgere ich mich immer wieder über Posts auf Instagram, die suggerieren, Selbstfürsorge sei etwas, das man einfach machen müsse. Zack, Date in den Kalender, Yogamatte raus, Gesichtmaske drauf oder Yoni-Ei rein und schon verschwinden Erschöpfung, Depression und strukturelle Ungerechtigkeit von alleine. 

Natürlich ist es nicht so einfach. Eigentlich wissen wir das alle und trotzdem hinterlassen die verkürzten Instagram-Erzählungen Spuren: Wieso kriege nur ich die regelmäßige Praxis nicht hin? Bin ich doch einfach zu langsam für meinen Job, wenn ich nie Freizeit habe? Sind meine Probleme hausgemacht, wenn es so einfach ist, gut zu sich zu sein? Wieso geht es mir nicht besser, obwohl ich zum Neumond manifestiere, Kristalle in der Hosentasche trage und wöchentlich zur Akupunktur gehe?

Selbstzweifel sind das Grundnahrungsmittel der kapitalistischen Marktlogik. 

Wenn wir unzufrieden oder unsicher sind, sind wir viel eher bereit, Geld für Dinge auszugeben, die wir nicht brauchen: teure Gesichtscremes, die uns frisches Aussehen versprechen, Onlineprogramme, die Rückenschmerzen ein für allemal verschwinden lassen oder Yoga-Retreats, auf denen man endlich wieder mit sich selbst in Kontakt kommt. Das Yoga-Retreat, der Onlinekurs oder das Schaumbad sind per se keine schlechte Sache. 

Wenn sie aber zum nicht enden wollenden Selbstoptimierungs-Versuch in einer dauerhaft unguten Lebenssituation werden, ohne dass sich grundlegende Strukturen ändern, werden sie keinen langfristigen Effekt zeigen – oder das Problem noch schlimmer machen. 

Manche Menschen greifen eher zu Genussmitteln, um sich etwas Gutes zu tun: Zum Beispiel die Weinschorle, die nach einem langen Tag Entspannung verspricht, die Chipstüte auf der Couch, die wir uns echt mal gönnen oder die Zigarette der Freiheit, wenn die Kinder im Bett sind. Grundsätzlich habe ich überhaupt nichts gegen Chips, Kippen und Wein. Der Punkt ist nur, dass sie als Entspannungsmethode nicht geeignet sind, weil sie nur einen vorübergehenden Effekt haben. 

Ob wir uns mit Yoga-Retreats beschäftigt halten oder am Weinchen nippen, um die tiefer liegenden Bedürfnisse und Themen zu betäuben, ist nebensächlich. Ich selbst war nach einer harten Feier-Phase in meinen 20ern für einige Zeit mit Selbstheilungsmethoden, Terminen bei Heilpraktiker*innen und anderen vermeintlich selbstfürsorglichen Konsum-Maßnahmen so busy, dass ich der Auseinandersetzung mit mir und meiner eigenen Bedürftigkeit aus dem Weg gehen konnte. 

Die kapitalistische Version von self-care lässt außer Acht, dass wirkliche Selbstfürsorge ein langer innerer, oft schmerzhafter Prozess ist. 

Um wirkliche self-care zu betreiben, müssen wir den Mist anschauen, der uns daran hindert gut zu uns zu sein. Oft sorgen tief in die Persönlichkeit eingebrannte Muster dafür, dass wir uns verhalten, wie wir uns verhalten – auch wenn es uns nicht gut tut. Die Muster haben immer einen guten Grund, der irgendwo in der Vergangenheit, meist in der Kindheit liegt. 

Kinder sind darauf angewiesen, dass ihre Eltern für sie sorgen, was diese mehr oder weniger gut hinbekommen. So entwickeln Kinder Strategien, mit dem, was sie vorfinden, zurechtzukommen – und das heißt in der kindlichen Logik: die Eltern zufrieden zu stellen, um die Fürsorge und Liebe der Eltern zu garantieren. 

Was ich mit diesem kleinen, vereinfachten Ausflug in die Entwicklungspsychologie sagen will: Kinder machen fast alles für ihre Eltern, weil sie ihre Eltern unbedingt brauchen. Als Erwachsene könnten wir uns zwar selbst um uns kümmern, haben aber so lange bestimmte Verhaltensmuster geübt, dass es schwer fällt, sie einfach abzulegen – auch wenn sie nicht mehr dienlich sind. 

#selfcare ignoriert außerdem die radikale Idee von Selbstfürsorge als Praxis von marginalisierten und diskriminierten Personen, um in einer ungerechten Gesellschaft bestehen zu können.

Selbstfürsorge mit Fokus auf das Kollektiv geht vor allem auf die Schwarze, lesbische Aktivistin Audre Lorde zurück. Sie hat ihr Leben dem Kampf gegen Rassismus und Sexismus gewidmet und nutzte vor allem die Poesie, um Position zu beziehen. Als Mitte der 80er Jahre ihre Krebserkrankung zurückkam, wurde Selbstfürsorge im wahrsten Sinne des Wortes überlebensnotwendig. Aus ihrem Essay A burst of light, der aus Lordes Tagebuchaufzeichnungen dieser Zeit besteht, stammt das bekannte Zitat:

Caring for myself is not self-indulgence, it is self-preservation, and that is an act of political warfare. – Audre Lorde

Im Sinne Lordes ist Selbstfürsorge eine gemeinschaftliche politische Praxis. Revolution. Die Verweigerung, sich vom System kleinkriegen zu lassen. 

Wenn wir Selbstfürsorge auf das Individuum reduzieren, stärken wir damit die Strukturen, die Audre Lorde ihr Leben lang versucht hat, zu dekonstruieren, führt die Journalistin Kathleen Newman-Bremang aus. Selbstfürsorge ist somit kein nettes Add-On wie ein Besuch im Spa, sondern ein Aufruf an Menschen, die gesellschaftlich weniger Unterstützung erfahren und von Diskriminierung betroffen sind, sich selbst zu organisieren und gegenseitig zu helfen. 

Ein treffendes Beispiel hierfür ist die Black Panther Party, die Gesundheits-Zentren aufbaute, um Schwarze Menschen, die vom klassischen amerikanischen Gesundheitssystem abgelehnt wurden, medizinisch zu versorgen. “This type of self-care guaranteed preservation and autonomy over one’s own body at a time when state would not provide that”, bringt es Sarah Taylor auf den Punkt. Vor diesem Hintergrund wird klar, wie wenig die individualisierte self-care privilegierter Großstadt-Influencerinnen mit Lordes Idee von Selbstfürsorge zu tun hat. 

Brauchen wir also community care statt self-care?

Nakita Valerio schlägt vor, self-care mit community care zu ersetzen: Ihre Worte “Shouting ‘self-care’ at people who actually need ‘community care’ is how we fail people”, die sie 2019 nach dem Anschlag auf 50 Muslime in Christchurch in ihre Timeline tippte, gingen viral. 

Was Nakita brauchte, um mit der eigenen Trauer und Fassungslosigkeit umzugehen, war tatkräftige Unterstützung in einer Situation, die sie nicht alleine meistern konnte. Ganz konkret: andere Menschen, die vorbeikamen, das Geschirr spülten und auf die Kinder aufpassten, damit sie trauern und die Geschehnisse verarbeiten konnte. “Community Care oder die Sorge füreinander”, so Valerio,”bedeutet da zu sein; es bedeutet: wenn du selbst gerade mehr geben kannst als du selbst brauchst, dann tu es.” (übersetzt aus Fashion Magazine). 

>> Unser Spendenaufruf auf Instagram für die Flutopfer

Wenn ich mich in meinem Umfeld umsehe, sind da viele Menschen, die sich gerne um andere kümmern – oder das zumindest gerne würden. Ich sehe aber gleichzeitig Menschen, die so viel arbeiten, dass für spontane Geschirr-Spülbesuche einfach kein Raum ist. Ich sehe Eltern, die zwischen Wochenendeinkauf, Homeoffice und Kita-Schließung komplett am Rad drehen. Und ich sehe Aktivist*innen, die ständig knapp an der Erschöpfungsdepression vorbeischrammen – oder mittendrin sind. 

Selbstfürsorge funktioniert also nicht ohne die Sorge umeinander. Die Sorge füreinander wiederum funktioniert nicht, wenn die eigenen Akkus komplett leer sind. 

Ihr kennt alle die Flugzeug-Regel: Erst eigene Sauerstoff-Maske aufsetzen, dann anderen helfen. Das heißt, wenn wir uns gut umeinander kümmern wollen, müssen wir auch unsere Ressourcen achten. Svenja Gräfen, deren sehr lesenswertes Buch Radikale Selbstfürsorge: eine feministische Perspektive* Anfang 2021 erschienen ist, schreibt dazu:

“Selbstfürsorglich zu sein, bedeutet, genau hinzusehen und deine Bedürfnisse besser kennenzulernen. Dir überhaupt zuzugestehen, Bedürfnisse zu haben und diese erfüllen zu dürfen – auch wenn dir gesellschaftliche Normen, unterdrückende Strukturen oder vergangene Erfahrungen das Gegenteil einzureden versuchen. (…) [Du] befreist dich, indem du eigene Entscheidungen triffst und herausfindest, wie du dir selbst in allen möglichen Situationen am besten helfen kannst – und manchmal ist es eben Selbsthilfe, zu erkennen, dass du gerade zusätzlich Hilfe von außen brauchst.” 

Die Frage ist: Wie kann ich mich wirklich gut um mich kümmern? 

Ein erster Schritt ist aus meiner Sicht Hinschauen. Auf unsere Erfahrungen in der Vergangenheit genauso wie auf die gesellschaftlichen Strukturen und Normen, innerhalb derer wir unseren Alltag bestreiten. Ohne die Anerkennung, dass etwas schief läuft, können wir es nämlich nicht ändern. 

Dann wird auch klar, dass wir nicht selbst schuld sind an unserem Schlamassel: “Du. Bist. Nicht. Das. Problem.”, schreibt Svenja Gräfen in ihrem Buch. Nur weil du den absurden Idealen, die Leistungsgesellschaft, Patriarchat und weiße Vorherrschaft hervorgebracht haben, nicht entsprichst, heißt das noch lange nicht, dass du nicht gut genug bist. Es heißt, dass wir in einem System leben, das nicht auf Gemeinwohl, sondern individuelle Vorteile ausgerichtet ist und Menschen in unguten Mustern gefangen hält. 

Vor diesem Hintergrund sind die kleinen selbstfürsorglichen Schritte plötzlich gar nicht mehr so schlecht, wie sie scheinen. Einen Teil des Tages für Yoga zu reservieren oder sich Zeit zu nehmen, einfach auf der Couch zu sitzen und vor sich hinzuschauen, wäre dann ein kleiner revolutionärer Akt, mit dem du Verantwortung für dein Wohlbefinden übernimmst und dem System den Mittelfinger zeigst. 

Selbstfürsorge bedeutet auch, sich selbst gegenüber die Rolle der erwachsenen Person einzunehmen und für das eigene innere Kind zu sorgen. 

Das können wir nur lernen, indem wir echte Fürsorge erfahren. Dazu braucht es eine Person, die uns das Gefühl vermittelt, geliebt und angenommen zu sein, auch wenn wir nicht unsere erlernten, vertrauten Rollen erfüllen. Ich bin großer Fan davon, professionelle, therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Der*die Therapeut*in nimmt im Prozess zum Beispiel die Rolle der Eltern ein und hilft, in Kontakt mit den eigenen, verdrängten Gefühlen zu kommen. 

So bekommen wir die Möglichkeit, bekannte Situationen in einem sicheren Rahmen zu erleben und können sie im besten Falle auflösen, weil wir andere Erfahrungen machen als in der Kindheit. Alles zusammen hilft, im Alltag aus der Position des*der Erwachsenen und nicht aus der des verletzten Kindes auf mögliche Trigger-Situationen zu reagieren. 

>> Lesetipp: Einen Therapieplatz finden: So gehst du es an

Im Kern geht es bei Selbstfürsorge darum, die eigene Bedürftigkeit zu spüren – und Wege zu finden, wie wir diese Bedürfnisse erfüllen können. Manchmal heißt das Raum und Zeit nur für sich zu beanspruchen. Manchmal heißt das um Hilfe zu bitten. Beides ist nicht unbedingt einfach, man kann es aber üben.

Selbstfürsorge ist ein nicht-linearer Prozess, der mal besser und mal schlechter gelingt. 

Diese Zeilen tippe ich im Urlaub. Mein Kind wartet darauf, ins Bett gebracht zu werden, die Kollegin darauf, endlich den Text zu lesen. Die Yogapraxis habe ich heute ausfallen lassen. Keine Zeit. 

Früher gab es solche Situationen oft. Im Laufe der Jahre bin ich viel besser darin geworden, meine Bedürfnisse zu spüren und Grenzen zu setzen. Dafür nehme ich in Kauf, dass meine Entscheidungen vielleicht anderen Menschen nicht gefallen und denke an das bayrische Sprichwort Everybody’s darling is everybody’s Depp. 

Der Weg hierhin war und ist ein intensiver Selbsterfahrung-Prozess, der nicht einfach war, sich aber gelohnt hat: Ich bin viel öfter entspannt und schaffe es, leichter aus meinem persönlichen Hamsterrad auszusteigen. Bei wichtigen Entscheidungen wähle ich öfter die Variante, die mich zufriedener macht, als die, die mehr Erfolg verspricht. Ich erfahre viel Unterstützung im Kreis meiner Familie und Freund*innen und habe einige toxische Verhaltens- und Beziehungsmuster hinter mir gelassen. Gesamtgesellschaftlich muss noch einiges passieren, doch lasst uns bis dahin im Kleinen aktiv werden. 

Titelbild © Rebecca Randak

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8 Kommentare / Schreibe einen Kommentar

  1. Ich merke durch Instagram, dass self-care immer mehr zum Druck wird, sodass man sich stresst self-care zu betreiben und es einem dann erst recht wieder schwer fällt, die self-care wirklich zu nutzen. Mittlerweile merk ich, wie gut es tut einfach mal Social Media zu deaktivieren.. das ist self-care für mich..

  2. Hey Rebecca, ein toller Artikel! Ich habe für mich über die Jahren lernen dürfen vor der eigenen Tür zu kehren. Ob es um Zeit für mich geht oder ob irgendetwas anderes. Wenn es irgendwie schiefläuft oder einfach nicht wie geplant abläuft, besinne ich mich auf das beobachten meiner Gedanken. Meistens finde ich dann ganz schnell wo es hängt und weiß, was ich tun kann. Alles beginnt und endet mit uns selbst…
    LG Christian

  3. Danke für diesen so unglaublich guten Artikel. Wie Self-care analysiert und definiert wird – einfach nur großartig und jenseits des üblichen Bullshit-Bingos. Vom Kleinen ins Große und wieder zurück – das ist das Leben und alles ist wichtig, das Gleichgewicht. Hatte ich schon Danke gesagt?! DANKE

  4. Ich wollte den Artikel gerne bis zum Ende lesen, deshalb teste ich jetzt 30 Tage. Könnte mehr draus werden, … :-) Vielen Dank für diese Sicht auf Selbstliebe, das bringt mich weiter und zwar auch ohne Yoni-Ei! Happy day, Tine

  5. Oh mein Gott ich liebe diesen Artikel! Danke, Rebecca! Schön, wieder von dir zu lesen. So viel Tiefe findet man in der „Szene“ nur selten.

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