Was es bedeutet, Schüler*in zu sein. Oder: Wo finde ich nur einen Guru?

“Mein Lehrer sagt immer, dass man beim Yoga üben in Dekaden denken sollte.” Als ich diesen Satz vor ein paar Jahren während einer Yogastunde von der Lehrerin hörte, nagte an mir das ziemlich unyogische Gefühl von Neid. “Mein Lehrer. Meine Lehrerin.”

Das klang super. Das klang nach mehr als jemand, dessen Yogastunden man ab und an gerne besucht. Nach jemandem, von dem man viel lernen kann und der einen aktiv an die Hand nimmt. Mit dem man eine ganz außergewöhnliche Beziehung hat, die vielleicht sogar ein Leben lang anhält.

Für einen Menschen wie mich mit chronischer Entscheidungsschwäche und vielen Zweifeln im Leben ein ziemlich verlockender Gedanke.

Welche Aufgabe hat ein*e Yogalehrer*in in unserer modernen Welt?

Wie finde ich denn diesen eine*n Lehrer*in? Und ist es überhaupt ein realistisches Konzept, die Schüler-Lehrer-Beziehung aus früheren Zeiten und anderen Kulturkreisen in unsere Lebenswirklichkeit zu übertragen?

Tatsächlich war es lange Zeit gar nicht vorstellbar, die Yogapraxis ohne eine intensive Beziehung zwischen Lehrer*in und Schüler*in zu erlernen. Das Wissen wurde ursprünglich eins zu eins weitergegeben und ohne den Beistand eines spirituell Erfahrenen war es gar nicht denkbar, sich Richtung Erleuchtung, dem ultimativen Ziel von Yoga, aufzumachen.

Die Zeiten haben sich geändert und mit ihnen auch die Motive, warum Menschen Yoga üben.

Selbstoptimierung, Stressabbau, mehr Flexibilität und weniger Rückenschmerzen dürften als Gründe für die Yogapraxis bei den meisten Schüler*innen weit vor spirituellem Erwachen und Bewusstseinserweiterung auf der Liste stehen.

Und genau für diese Motive gibt es viele passende Lehrer*innen. Solche, die ihr Handwerk wirklich verstehen, anatomisch versiert sind, sich mit Entspannungstechniken auskennen und hübsche Vinyasa-Sequenzen zusammenstellen können.

Ich sage das ohne irgendeine negative Sicht darauf. Im Gegenteil, ich finde es gut und wichtig, dass wir alle unterschiedliche Zugänge zum Yoga haben. Für viele ist es eben die Asana-Praxis.

Für viele Yogis kommt jedoch nach einer gewissen Zeit mit regelmäßiger Praxis der nächste Schritt.

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Die Frage nach dem Sinn, der Wissensdurst. Oft beginnt es mit dem mehr wissen Wollen über Asana und führt über die Meditation zu den Schriften und dem Zusammenhang zwischen Yoga und Philosophie. Für mich ist spätestens das der Punkt, wo Lehrer*innen, im Sinne begleitender Mentor*innen, ins Spiel kommen sollte.

Wozu brauche ich eine*n Yogalehrer*in?

Wichtig: Yoga kann uns dabei helfen, ein freudvoller Mensch zu werden, indem wir uns auf Tugenden wie Liebe, Mitgefühl, Toleranz und Gelassenheit besinnen und dadurch allen anderen Lebewesen gegenüber freundlicher auftreten. Dafür ist jedoch etwas Entscheidendes notwendig:

Wir müssen versuchen, unser Ego loszulassen.

Nicht, indem wir uns und unsere Bedürfnisse verleugnen, sondern dadurch, dass wir unsere Tendenzen, unsere Anhaftungen und Abneigungen nicht noch mehr bestärken. Hierbei kann uns ein*e Lehrer*in weiterhelfen.

Im Yoga Sutra klärt uns Patanjali über die Kleshas, die Hindernisse auf dem Weg zu Yoga auf.

Zu ihnen gehören auch raga – die Anhaftung an etwas und dvesha – die Abneigung gegen etwas. Beide können Ursache von Leid sein und uns bei unserer spirituellen Entwicklung behindern.

Was bedeutet das praktisch? Vielleicht erkennen wir irgendwann, dass wir auf der Matte immer wieder die Tendenz haben, uns auszupowern, richtig Gas zu geben, aber Shavasana super kurz halten oder am liebsten gleich ganz schwänzen.

Oder andersrum: eigentlich würden wir am liebsten jeden Tag 30 Minuten in Supta Baddha Konasana liegen, ohne lästige Chaturangas und Handstände.

Beides hat seine Berechtigung – manchmal. Wenn wir allerdings merken, dass wir immer wieder unserer Tendenz nachgeben anstatt auch mal über uns hinauszuwachsen, ist das der Moment, wo uns ein*e Lehrer*in zur Seite stehen kann.

Lehrer oder Lehrerin können uns helfen, gegen unsere Tendenzen zu üben.

Dadurch können sie uns näher zu dem bringen, was wir wirklich brauchen. Oft stecken wir ja in alten Mustern fest und trauen uns nicht, weiterzugehen. Durch eine*n Lehrer*in und ihren oder seinen Schubs in die richtige Richtung, kommen wir vielleicht nach und unseren eigentlichen Bedürfnissen etwas näher.

Manchmal ist es nämlich genau dieser Schritt raus aus unserer Komfortzone, den wir gebraucht haben, um uns zu entwickeln.

So ist ein*e Yogalehrer*in im besten Sinne der- oder diejenige, der oder die unseren vernebelten Blick klärt und uns den Schubs in die richtige Richtung gibt. Ganz im ursprünglichen Sinne des Guru-Begriffs: derjenige, der die Dunkelheit vertreibt.

Ist das denn überhaupt noch zeitgemäß?

In unserer Welt hat es schnell einen komischen Beigeschmack, sich auf eine klar hierarchische Beziehung einzulassen. Dazu kommt, dass es ja auch tatsächlich immer wieder Berichte gibt, die belegen, dass diese Beziehungen durch vermeintliche Gurus missbraucht werden.

Der Sinn einer Schüler*in-Lehrer*in-Beziehung kann nicht sein, dass eine*r vorgeht und der oder die andere einfach nur blind folgt.

Ein*e Lehrer*in soll dir dabei helfen, dein volles Potential zu erkennen und auszuleben. Dir zuliebe, weil er oder sie Menschen mag.

Sie haben eine große Verantwortung, der sie sich auch hundertprozentig stellen sollten. Dazu gehört, unbedingt Distanz zu wahren, romantische Gefühle nicht auszunutzen und einen heiligen Raum zu schaffen und diesen auch zu halten.

Dafür braucht er oder sie gewisse Qualitäten und vor allem auch Zeit und Interesse an dir als Individuum. Dennoch wird es innerhalb dieser Beziehung meistens eine klare Hierarchie geben.

Genauso, wie ein*e gute*r Lehrer*in gewisse Qualitäten erfüllen sollte, muss sich auch der*die Schüler*in auf dieses Verhältnis einlassen.

In früheren Zeiten stellte ein*e Schüler*in folgende Frage an seine*n Lehrer*in: “Bist du wirklich mein Lehrer?” Und der Lehrer fragte zurück: „Bist du wirklich mein Schüler?“

Demütig sein, das ist für mich die Grundtugend jedes Schülers.

Das bedeutet, dass es eine wechselseitige Beziehung ist, die von beiden gepflegt werden muss. Wenn wir unsere Entscheidung für eine*n Lehrer*in sorgfältig gefällt haben, dann sollten wir uns auch wirklich komplett darauf einlassen.

Hinterfragen ist super und das sollten wir auch für unsere Entwicklung immer tun. Dennoch macht es vielleicht Sinn, erstmal mit etwas zu sitzen und es nicht direkt anzuzweifeln. Und gerade dann, wenn wir uns bewusst für einen Lehrer entschieden haben, sollten wir darauf vertrauen, dass er oder sie nur unser Bestes im Sinn hat.

Wie finde ich diesen Lehrer?

Damit wären wir beim kniffligen Part. Auch wenn wir für uns erkannt haben, dass es für unsere Entwicklung ziemlich förderlich sein könnte, wenn uns ein*e Lehrer*in zur Seite stünde – woher nehmen? Es gibt ein sehr wahres Sprichwort:

“When the student is ready, the teacher appears”

Im Klartext bedeutet das, dass es durchaus sein kann, dass du erstmal jahrelang zu unterschiedlichen Lehrer*innen gehen wirst, um überhaupt erkennen zu können, was du brauchst.

Vielleicht wirst du auch lange Zeit bei einer Lehrerin oder einem Lehrer hängenbleiben, nur um dann die Erfahrung zu machen, dass er oder sie doch nicht richtig für dich und deine Praxis gewesen ist. Tatsächlich kann es sinnvoll sein, erstmal den Unterricht eines Lehrers regelmäßig besucht zu haben, bevor man sich für einen bestimmten Zeitraum festlegt.

Hier sind drei Tipps, die mir geholfen haben, den richtigen Mentor zu finden:

  • Schaue dir ihre oder seine eigene Praxis an: Inwieweit ist er oder sie wirklich darin verwurzelt? Lehrer*innen sind letztlich ein Sprachrohr für das, was sie selber gelernt haben. Das hat viel mit Demut zu tun und damit, sich selber nicht so wichtig zu nehmen. Ist das bei ihm oder ihr der Fall?
  • Stelle Fragen: Keine Scheu! Ein*e gute*r Lehrer*in wird dir das geben, von dem er oder sie glaubt, dass du dafür bereit bist. Vielleicht gibt es ja in deinem Yogastudio einen offenen Satsang mit ihm oder ihr oder er oder sie bietet einen längeren Workshop an. Das sind gute Gelegenheiten, um Fragen zu stellen und ihm oder ihr ein bisschen mehr auf den Zahn zu fühlen.
  • Bitte um eine Privatstunde: Hier hast du deinen Lehrer schon mal ganz für dich. Du merkst, ob er auf dich und deine Fragen eingehen kann und dich „sieht“. Am besten bereitest du dich auf diese vor: Was erwartest du dir davon, bei diesem Lehrer*in zu lernen?

Zum Schluss möchte ich dir noch eine Sache ans Herz legen:

Nicht zu viel erwarten und die Rollen für sich selber klar definieren.

Wenn du dir eine bestimmte Person als Begleiter*in und Mentor*in für deine Yogapraxis ausgesucht hast, dann ist er oder sie genau das. Nicht mehr und nicht weniger. Denn vor allem dann, wenn wir wirklich jemanden brauchen, wenn alles zusammenbricht und das Bedürfnis nach Halt richtig groß ist, kann es sonst passieren, dass wir uns von unseren Wegbegleitern nicht ausreichend unterstützt fühlen.

Dabei sollten wir eines aber nicht vergessen: Ein Lehrer ist nicht und sollte auch gar nicht unser bester Freund oder Therapeut sein. Dafür gibt es andere Menschen.

Find the guru, love the guru, leave the guru

Wenn die Rollen und Erwartungen klar sind, kann so eine Beziehung durchaus langfristig, vielleicht sogar lebensbegleitend sein.

Es kann aber auch sein, dass sich nach einiger Zeit herausstellt, dass es nicht passt.

Dann ist es auch ok, zu gehen. Das kann schmerzhaft sein, wie es jede Trennung nun mal ist. Vielleicht bist du im ersten Moment sogar wütend und fühlst dich hängen gelassen.

Sehr oft erkennen wir tatsächlich erst viel später, was wir gelernt haben. So wie damals in der Schule, als wir wirklich nicht glauben konnten, dass wir dieses dämliche Prozentrechnen jemals wieder brauchen werden.

Wie wichtig findest du eine Lehrer-Schüler-Beziehung für deine Praxis? Hast du dich auf eine*n Lehrer*in festgelegt? Ich freu mich sehr über deinen Kommentar.

Alles Liebe,
deine Sabine

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Titelbild © Animesh Bhattarai via Unsplash

3 Kommentare / Schreibe einen Kommentar

  1. Vielen Dank für diesen schönen Artikel.

    Das Thema beschäftigt mich oft, brauche ich einen Guru? Wo finde ich ihn? Wäre dann alles einfacher oder klarer? Und so weiter…

    Ich weiss nicht ob das auch gilt, aber ich denke ich habe meine Gurus auf youtube gefunden. Eines Tages stöberte ich auf der suche nach Vorträgen zu einem anderen Thema. Dabei bin ich auf eine Film gestossen mit dem namen Samadhi. Zu dem Zeitpunkt hatte ich keine Ahnung was Samadhi bedeutet. Aber ich fing einfach mal an mir den Dokumentarfilm anzuschauen und wurde magisch angezogen von den Inhalten und den Aussagen in dem Film. Mit dem Begriff Samadhi habe ich dann einen weiteren Guru auf youtube gefunden und so ging das alles Schalg auf Schlag. Innerhalb von 2 Jahren bin ich Vegetarier geworden, trinke keine Alkohol mehr, bin nichtraucher geworden, (das ging alles wie von selbst) hab viele der alten Vedischen Schriften gelesen, hab mit Yoga angefangen und gebe jetzt seit ca 6 Monaten Yoga unterricht und habe selber aber nur 1 einzige Stunde in einer Yoga Schule mitgemacht. Alles andere habe ich über die Vorträge von anderen Meistern auf youtube gelernt und natürlich nächte lang gelesen (yoga sutras, hatha yoga pradipika, bhagavad gita, mahabarata …)

    Vor 10 Jahren hätte ich all das wahrscheinlich als “blöd” bewertet. Es kommt alles irgendwie eben doch zur rechten zeit, wenn man seplbst dafür bereit ist.

    Aber dennoch beschäftigt mich das Thema “wo finde ich meinen Guru”? Wäre es viel einfacher mit einem Guru … :) … oder ist der wahre Guru in jedem tief drinnen verborgen?

    danke nochmal für den schönen artikel

    ganz liebe grüsse

  2. Ich habe das Gefühl mehrere Lehrer für verschiedene Dinge zu haben. Ist das legitim oder ist mir der/die eine Guru dann noch nicht begegnet?

  3. “When the student is ready, the teacher appears”
    Das ist ein Zitat, das mir unglaublich gefällt. Nicht nur, dass es besagt, dass man sich in Geduld üben sollte. Auch, dass derjenige genau zu dem Zeitpunkt auftritt, indem du ihn brauchst, nicht vorher und nicht später.
    Danke für den tollen Artikel.

    Liebe Grüße,
    Lisa

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