Kennst du \_(ツ)_/¯ ?
Nein? Darf ich vorstellen, shrug. Shrug kommt aus dem Englischen und symbolisiert ein Schulterzucken (engl. to shrug), das Unwissen auf eine niedliche Art und Weise ausdrücken soll. Ich verwende den Emoji als solchen, als ein “Ich weiß es nicht”. Er kann aber auch als “Mir doch egal” gelesen werden, daher Obacht!
Ich plädiere dafür, dass wir alle diesen Emoji benutzen!
Wie oft geben wir offen zu, dass wir etwas nicht wissen? Dass wir uns erstmal eine Meinung bilden müssen, bevor wir Stellung beziehen? Und wie oft räumen wir unserem Gegenüber diesen Raum ein, sich erst einmal eine Meinung zu bilden?
Nahostkonflikt, Thrombosegefahr von Astrazeneca, Seaspiracy.
Alles aktuelle buzzwords, zu denen viele sofort eine Meinung haben oder zumindest das Bedürfnis, relativ schnell die eine oder die andere Seite wählen zu müssen. Und zwar nicht als innerer Prozess der Meinungsbildung und des Informierens, sondern als Darstellung eines Ergebnisses: So denke ich. Stattdessen sollten wir alle viel öfter “Ich weiß es nicht. ¯\_(ツ)_/¯” sagen.
“Not saying I don’t know as a leader kills curiosity and makes us unapproachable” – Tan Kit Yung
Denn wenn wir uns selbst und anderen nicht die Freiheit geben, “Ich weiß es nicht” zu sagen, nehmen wir uns allen die Neugierde und Offenheit, dazuzulernen. Und wir verfahren uns vielleicht in einer Meinung, die wir vorschnell geäußert haben und von der wir dann denken, dass wir uns an ihr festhalten müssen.
Die Sache ist ja die: Wir sind alle überfordert von der Informationsflut, vom Einordnen, Abschätzen und Meinung bilden.
Deswegen brauchen wir jetzt, mehr denn je, eine Diskussionskultur, die uns dabei hilft, wertschätzend mit Wissen und Nichtwissen umzugehen und vor allem: mit den Menschen, die dahinter stecken.
Also habe ich acht Punkte formuliert, die hoffentlich dazu beitragen, eine wertschätzenden Umgang in Online- (und Offline-) Diskussionen zu entwickeln.
1. Ich sage offen, wenn ich etwas nicht weiß und mich erst informieren muss. Die Welt ist komplex. Für uns alle.
Oder wie Neil deGrasse Tyson es formuliert:
“There’s no shame in admitting what you don’t know. The only shame is pretending you know all the answers.”
Haben wir in einer Diskussion das Gefühl, selbst gerade nicht genug zu wissen, um eine fruchtbare Diskussion daraus entstehen zu lassen, ist niemandem geholfen, wenn man einfach so tut, als hätte mensch eine Meinung, einen Plan, irgendwas. “Fake it till you make it” hat hier nichts zu suchen.
Lasst es uns normalisieren, zu sagen: “Ich weiß es nicht und aktuell kann ich deswegen mit dir nicht über dieses Thema diskutieren. Ich werde mich informieren. Wenn ich soweit bin, geb ich Bescheid. Okay?”
2. Spiegelt mir mein Gegenüber, dass es Zeit und Raum braucht, sich zu informieren, gebe ich ihm diese.
Teilt uns unser*e Diskussionspartner*in mit, dass er*sie aktuell nicht genügend über ein bestimmtes Thema weiß und sich erst einmal informieren möchte, sollten wir diese ehrliche Antwort schätzen. Die Ehrlichkeit anerkennen, statt sie mit Scham zu bestrafen.
Denn die Krux ist ja die: Die Sozialen Medien, bei mir ist es vor allem Instagram, wollen uns mit ihrer Geschwindigkeit und Allgegenwärtigkeit verklickern, dass wir immer sofort zu allem eine Meinung haben müssen und sie auch auf keinen Fall wieder ändern dürfen. Das ist schlichtweg bullshit.
Nehmen wir den Nahostkonflikt. Wenn ich nichts sage, bin ich dann pro Palästina? Oder Israel? Und was heißt das überhaupt? Muss ich auf einer Seite stehen? Und welche ist die richtige? Und was bedeutet das alles?
Ich habe das Gefühl, dass es auf Instagram oft keinen Raum mehr für Diskussion und echten Austausch gibt. Vielmehr scheint als, als müsse man sich auf eine Seite stellen. Wie bei Louisa Dellert, die in dem unten stehenden Post zeigt, welche Nachrichten sie zu diesem Thema erreichten.
Sieh dir diesen Beitrag auf Instagram an
Louisa stellt auf den slides klar, dass sie nicht genügend über das Thema weiß, sich nicht sicher ist, welche Seiten sie verlinken soll und ihre Meinung nicht ausreicht, um sich guten Gewissens zu positionieren.
Nur weil sich jemand nicht öffentlich zu einem Thema positioniert, heißt es nicht, dass die Person sich nicht informiert oder damit automatisch für oder gegen was ist.
Themen sind komplex. Nicht jede*r muss sich permanent zu jedem Thema öffentlich positionieren, auch wenn gerade auf Instagram von bekannten Influencer*innen wie Louisa Dellert oder Madeleine Alizadeh aka Daria Daria eben dies erwartet wird.
Vorschnelles Positionieren und Teilen von Inhalten in den sozialen Netzwerken kann zu performativem Aktivismus führen. Bei performativem Aktivismus geht es in erster Linie darum, den eigenen Aktivismus zur Schau zu stellen, statt wirklich nachhaltigen Wandel zu unterstützen. Nur weil eine Person auf Instagram beispielsweise zig Bilder vom feministischen Kampftag postet, bedeutet das nicht, dass sich diese automatisch mehr mit Feminismus auseinandersetzt, als eine, die kein Bild postet oder an dem Tag nicht zur Demo ging und sich beispielsweise anderweitig weitergebildet hat.
Wie unnachhaltig solch ein performativer Aktivismus ist, beschreibt Fabienne bei This is Jane Wayne in diesem Artikel.
3. Ich gehe nicht an die Decke, wenn ich meinem Gegenüber die Meinung sage und dieses meine Meinung nicht sofort annimmt.
Vor kurzem veröffentlichte Sabine hier einen Artikel zur Spaltung der Yogis in Sachen Corona. Die Kommentare unter dem Instagram-Post reichten von “Danke euch für den Artikel” bis zu “Super mieser Artikel”. Zum Teil lesen sie sich, als hätte die Person, die unter dem Post kommentiert, ohne groß nachzudenken ein paar Worte rausgehauen, als säße da kein Mensch am anderen Ende, an den der Kommentar gerichtet ist.
Wir müssen wieder Empathie dafür entwickeln, dass wir nicht mit Maschinen, sondern mit Menschen kommunizieren.
Dank meiner Familie habe ich offline gelernt, was online so oft nicht mehr stattfindet und auch mir mega schwer fällt: andere Meinungen zulassen, sie aushalten und sich nicht gleich gegenseitig an die Gurgel gehen.
Anstatt weiterhin mit meiner Familie über Themen wie Feminismus über den Küchentisch hitzig zu debattieren, haben wir diese Diskussionen auf E-Mails umgeleitet. Damit entstehen Zeit und Raum für das Lesen, Aufnehmen und Antworten. Ich renne nicht mehr aufgebracht aus dem Raum und statt eines “Das hab ich irgendwo gelesen” lassen sich Quellen einfach verlinken.
Ich hab dadurch gelernt, dass es am Ende einer Diskussion nicht darum geht, die Beteiligten in Gewinner*innen und Verlierer*innen aufzuspalten. Sondern vielmehr darum, Meinungen zuzulassen, statt im Eiltempo und mit Riesenschaufeln den Graben, der zwischen unseren Meinungen liegt, noch tiefer und breiter zu machen.
4. Ich darf meine eigene Meinung immer wieder hinterfragen und ändern. Das ist ein Zeichen von Wachstum und kein Grund sich zu schämen.
Ich selbst fing meine Impfreise bei “Ich weiß nicht, ob ich mich impfen lasse” an, ging über zu “Alles außer Astra” und endete bei “Gib mir Astra, bitte!” Weil ich nach dem ersten Mal versucht habe, mich weiter zu informieren und abzuwägen, statt mich auf meiner anfänglichen Meinung und auf meiner damaligen Wissenslage auszuruhen.
Denn am Ende ist es ja so: Meinungen sind Meinungen, weil sie eben nicht in Stein gemeißelt sind. Meinungen dürfen und sollen sich verändern und weiterentwickeln, wenn wir neues Wissen hinzugewinnen.
5. Ich kann von anderen Menschen nicht erwarten, dass sie sich genauso intensiv mit einem Thema auseinandersetzen, wie ich.
Ich setze mich viel mit den Themen Feminismus und Nachhaltigkeit auseinander – privat wie beruflich. Doch nicht jede Person in meinem Umfeld hat genauso viel Bock drauf, geschweige denn genauso viele Kapazitäten dafür.
So hat eine frisch gebackene Mama wohl anderes zu tun, als sich die neuesten feministischen Bücher auf dem Markt durchzulesen und ich kann ihr nicht ankreiden, dass sie nicht genauso viel Zeit da rein investiert, wie ich. Wir haben alle unterschiedliche Kapazitäten und Grenzen, die wir anerkennen sollten.
6. Es heißt nicht, dass eine Person ALLES über ein Thema weiß, nur weil sie sich dazu positioniert.
Gibt eine Person ihre Meinung kund, ist dies vor allem erstmal eins: eine Meinung. Eine Meinung zu äußern bedeutet nicht, sich damit so hinzustellen, als hätte mensch auf jede Frage eine Antwort gefunden. Manchmal hat mensch nur noch mehr Fragen gefunden, die genauso wertvoll sein können wie Antworten.
Das ist nichts neues, sondern wird in den sozialen Medien nur sichtbarer. Weil hier Gesagtes nicht sofort verfliegt, IG-Stories 24 Stunden einsehbar sind, gescreenshotet werden, fixiert und weitergetragen werden können.
7. Ich bin für meine eigene Informationslage verantwortlich.
Niemals hätte ich gedacht, dass dieser Zeitpunkt wirklich kommen wird, aber hier ist er: Mein Studium an der Universität hat mir etwas gebracht. Es hat mich gelehrt, wie ich mich selbst informiere. Wie ich Quellen checke und recherchiere. Wie ich prüfe, was eine Person sonst so von sich gibt. Was ist das für ein*e Absender*in? Welchen Hintergrund hat diese Person? Wird sie von anderen, glaubwürdigen Quellen zitiert? Welche unabhängigen Medien gibt es? Wie kann ich mit kritischem Auge Infos heranziehen?
Das sind die Fragen, wie wir uns bei unserer Informationsbeschaffung stellen sollten, statt Influencer*innen vorzuwerfen, dass Posts nicht vollständig sind. Auf einen Carousel Post passt nun mal nicht die ganze Welt und wer das glaubt, sollte diese Perspektive mal hinterfragen, bevor er*sie anderen öffentlich oder per privater Nachricht hate da lässt.
Wir leben in bubbles, von denen uns, dem Algorithmus sei dank, mehr und mehr von dem gezeigt wird, was wir ohnehin konsumieren und immer weniger von dem, auf das wir nicht klicken, das uns nicht interessiert und unsere Freund*innen auch nicht. Das heißt aber nicht, dass die Meinung dieser bubble die Meinung der ganzen Welt abbildet. Sonst würden wir es ja nicht bubble nennen.
Diese Funktion ist dafür gemacht, uns unendlich lange scrollen zu lassen und aus Menschen Daten und daraus wiederum cash zu machen. Das kann bei der Informationsbeschaffung über soziale Netzwerke verheerend wirken.
Soziale Medien waren nie dafür gedacht und werden nie dafür da sein, uns mit “neutraler”, ausgewogener Berichterstattung zu versorgen.
Wie auch sollen in diesen schnelllebigen Apps komplexe Sachverhalte, die andere jahrelang studieren, runtergebrochen werden?
8. Bevor ich einer Person im digitalen Leben hate da lasse, frage ich mich: Wie würde ich dieser Person begegnen, wenn sie jetzt vor mir stehen würde?
Wie möchte ich Kritik üben? Wie äußere ich meine Meinung? Wenn ich merke, dass die Aussage, die ich in den Sozialen Medien der Person gegenüber tätige, ziemlich überzogen, verletzend und mit null konstruktiver Kritik daher kommt, sollte ich mich fragen, ob ich sie wirklich so abschicke.
Lasst uns gemeinsam versuchen, im digitalen sowie im analogen Raum mitfühlender miteinander zu sprechen. Uns mehr trauen, mehr zuhören, weniger Finger zeigen und besser kommunizieren.
Weil wir aus Fehlern lernen können und, wenn wir sie teilen, sogar noch mehr.
Mein Monatsmantra: Ich muss nicht zu allem sofort eine Meinung haben, sondern gebe mir und anderen den Raum, sich diese erst zu bilden.
Titelbild © Magnet Me
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So ein toller Artikel, danke!
Schade, dass so ein aktuelles und wichtiges Thema nicht für alle lesbar ist. Mein erster Impuls war den Artikel zu teilen, ich finde es aber unglücklich, wenn ein Nicht-Mitglied dann nur die ersten Zeilen lesen kann.
Liebe Grüsse, Tatjana