Ich starre in die Menge. 250 Augenpaare starren erwartungsvoll zurück. Hier sitze ich also. In Dalian, China. Neben mir meine reizende Übersetzerin XinXin. Mein Herz tanzt Hiphop und ist so laut, dass ich einen Moment denke, der Beat wird von den vielen Lautsprechern im Saal übertragen. Ist aber wohl doch nur innerlich, sonst würde sich irgendetwas in der Menge regen. Tut sich aber nicht. Okay, denke ich, nehme einen tiefen Atemzug und rücke mein Headset-Mikrofon zurecht. Let the show begin. Und lächle, in mein pochendes Herz, zu XinXin, zu den Menschen vor mir.
In aller Aufregung stelle ich fest: Ich ruhe in mir.
Meine Reise nach China im vergangenen Jahr war nicht nur eine Reise zu einem anderen Kontinent, sondern gefühlt auch eine durch Dantes neun Kreise der Hölle. Oder, um im tantrischen Fachterminus zu bleiben, durch alle drei malas.
Vorangegangen war etwas, was jeder von uns kennt: Man macht etwas, ohne zu wissen warum. Bei mir lief das so ab: Ich saß gemütlich in meinem Garten auf der Sonnenliege, als der Anruf von Ava kam. Ava leitet Yama Talent, eine Booking-Agentur für Yogalehrer*innen, die mich ebenfalls vertritt. Ob ich nicht Lust hätte nach China zu fliegen und dort auf dem SoYoga Asia Arts Festival zu unterrichten. Und obwohl mir leicht flau im Magen war, hörte ich mich sagen: Ja klar möchte ich!
In der tantrischen Tradition ist dies prathiba, die Intuition, und icca śakti, der präkognitive Wille, etwas zu tun.
Soweit, so gut. Ich könnte jetzt locker flauschig weiterschreiben und erzählen, wie schön es doch ist, seiner Intuition zu folgen. Aber: Das war fuckingscheißverdammtnochmal nicht der Fall. Zunächst war ich Feuer und Flamme: Mensch, China! Was für eine Chance, dort zu unterrichten! Ich war nicht nur stolz wie Oskar, sondern dachte auch das pack ich, schaute mir mein Repertoire an Festival-Klassen an, suchte zwei aus, übersetze die Beschreibung auf englisch und dachte, damit hätte es sich getan.
Dann passierte folgendes: E-Mail Wechsel mit meinen chinesischen Hosts. Ablehnung meiner entwickelten Klassen. Unter anderem mit dem Hinweis, dass etwa Eka Raja Kapotasana, die volle Königstaube, in der man mit beiden Händen seinen Fuß greift und an den Kopf führt, nicht fortgeschritten genug sei für die chinesischen Yogis. Oder hätte ich da irgendwelche neuen Insights? Als ich dies las, machte es innen drin laut und deutlich KNACK!. Aus dem Riss pulten sich meine alten Freunde namens „du bist nicht gut genug“, „guck dir mal deinen Körper an, wieso glaubst du überhaupt Asana unterrichten zu können, du Seekuh“ und „mein lieber Scholli, war ja klar, dass du dich übernommen hast, die werden dich alle hassen“ heraus.
Mit jedem Atemzug schrumpften sie mich ich ein bisschen mehr zusammen, denn: ānava mala, der Glaube, in irgendeiner Weise nicht richtig zu sein, und māyīya mala, der Glaube, getrennt von allen zu sein, hielten triumphal Wiedereinzug in mein kleines Seelchen. Was passiert, wenn du diesen zwei „Unreinheiten“, wie sie die tantrische Philosophie betitelt, Glauben schenkst?
Deine Handlungen sind Ausdruck deines Glaubens und damit wären wir bei kārma mala.
Die menschlichen Mechanismen, aus alten Glaubenssätzen heraus zu handeln, waren auch schon vor Hunderten von Jahren bekannt. So können wir zu kārma mala im Tantra Spanda Karika lesen:
„When, by your own freedom, your own free will (the cause if your impurity), you become worthless, powerless, incapable of anything, then desire rises in you for doing this and doing that.” – Tantra Spanda Karika, Vers 1.9 (Übersetzung von Swami Lakshmanjoo)
Bämm, da haben wir es: Dein eigener freie Wille, dieses wunderbare Ding, bindet dich an Leid, weil du beginnst, an deine Limitierungen zu glauben – und du handelst leider auch so. Diese Handlungen bilden dein kārma. Besonders präsent in deinem daraus resultierenden Tun sind raga, die Anhaftung an Dingen, Personen, Zuständen, von denen du denkst, sie machen dich besser, sowie dvesha, die Aversion, in diesem Falle etwa die Abneigung gegen Dingen oder Menschen, von denen du denkst, sie müssten aus deinem Leben verschwinden, damit du glücklich sein kannst.
Kommen wir zurück zu meinem konkreten Beispiel. Der erste Impuls war Kopflosigkeit. Wie ein aufgescheuchtes Huhn lief ich planlos umher, entwickelte Klassen, verwarf sie wieder. Ich versuchte mich kläglich scheiternd an Asanas wie Dwi Pada Viparita Dandasana, quasi ein großes Rad auf Unterarmen, was bei mir leider nicht wie bei den Instagram-Yogis aussieht. Anstatt an einen hübschen Bogen zu erinnern, mit reichlich Raum unter den Beinen, sieht es einem steifes Holzbrett auf zwei Klötzen frappierend ähnlich.
Ich schaute mir die anderen Lehrer an, die unfassbar krasse Sachen machten, die ich als ehemaliger Körperclown niemals werde tun können.
Ich heulte, war kurz davor alles aufzugeben und dachte Das schaffst du nie. Mein raga, meine Anhaftung an den Glauben, nur mit einem biegsamen Brezel-Körper bin ich eine gute Yogalehrerin, war sowas von on. Ich litt. Ich tröstete mich mit einem Dreier mit Ben&Jerry’s, versuchte mich mit Netflix einzulullen, ging in die Flucht und mein Handeln bestand darin, gar nichts tun. Ich wollte außerdem nicht mehr nach China, fand auf einmal alle Menschen doof und die chinesischen Yogis im ganz Besonderen.
Du merkst schon schon: Dvesha war ebenso präsent wie raga.
Ich verrate jetzt kein Geheimnis, wenn ich sage, dass wir unglaublich wachsen, wenn wir in solchen Situationen nicht davonlaufen, sondern uns ihnen stellen. Das tat ich dann auch. Den entscheidenden Impuls gaben mir mein Partner und meine liebe Freundin und Kollegin Wanda Badwal. Sie forderten mich auf, nmich nicht darauf zu konzentrieren, was ich nicht kann, sondern auf das, was ich kann. Sie forderten mich auf, selbstbewusst zu dem zu stehen, woran ich glaube, wofür mein Herz brennt, was ich absolut liebe. Ihre flammenden Reden setzen mich auf den Pott und ließen mich aufwachen.
Was hat mich zusagen lassen? Meine Intuition. Icca śakti.
Mein brennendes Herz für Tantra und das Verweben von uralten Techniken mit Asanas. Die befreiende Philosophie. Ich löste mich von dem Glauben, nicht genug zu sein und ließ mich hineinfallen in die Überzeugung: für das, was ich weitergeben möchte, bin ich absolut genauso richtig. Ich vertraute darauf, dass wir verbunden sind und der Vibe der Klassen genau die Menschen erreichen wird, die sie erreichen sollen.
Mein Lehrer Dharmabodhi Kolbjorn Martens hat sehr poetisch ausgedrückt, wie wir mit kārma mala umgehen können:
„As the Oneness of our Universal Nature diversifies and re-appears, wel retain an essential connection. Something deep within us calls us to return to that Source while still living our individual lives. Some experience this as a „Fall from Grace“. But there is another View from the tantrik tradition that celebrates the necessary limitation of our Universal Nature to allow this beautiful creation to come into being. When we identify with the limitation story and the illusory sense of separation it generates, we feel afraid and alone. But when we sense deeply inside and connect to our ever-present Source through meditation and yoga we re-invoke our sacred nature; and beauty, grace and compassion are possible in every action.“ – Dharmabodhi Kolbjorn Martens, Trika Mahasiddha Yoga
Zu seinen Worten kann ich nur ein volles Ja aus meinen Herzen heraus rufen. Ich löste mich also von dem Glauben, nicht richtig zu sein, nicht verbunden zu sein, sondern vertraute auf meine Quelle, meine ursprüngliche Kraft und meine Intuition. Und: Ich handelte anders.
Ich vergrub mich nicht mehr, versuchte es nicht allen recht zu machen, sondern stand ganz klar zu dem, was ich danach entwickelte.
Und weißt du was? China wurde zu meinem größten Höhepunkt in 2019, ein so einzigartiges Erlebnis, bei dem ich Menschen berühren durfte und so unendlich viel lernen. China war eine Zeit, in der Freundschaften geschlossen und Erinnerungen gemacht wurden, wie die, in der ich mit zwei indischen Kollegen in China durch ein nachgebautes Venedig mit einer Gondel kutschiert wurde. China war einfach unbeschreiblich und gab mir das Gefühl von unendlicher Freiheit in mir und ich bin so unglaublich froh, ins freie Handeln gekommen zu sein.
Wie kannst du aus kārma mala herauskommen, wenn dir gerade kein Interventionskommando zur Verfügung steht?
Mir hilft es, über folgende Fragen nachzudenken:
- Was weiß ich ganz sicher, was ich tun möchte? Das kann auch nur ein Themenfeld sein
- Welche Werte sind da, ohne, dass ich groß überlegen muss?
- Wie kann ich diese Werte auch in dieser Angelegenheit leben?
- Wo und inwiefern tue ich das nicht?
Es ist immer bequemer und sicherer in den geordneten Bahnen des jahrelang gleichen Tuns zu bleiben, denn anders agieren kann Angst machen.
Nicht umsonst ist die furchteinflößende Variante der Göttin meiner Linie aparā: Eine schreckliche Form der Devī mit Fangzähnen, gräßlichen Augen und allem pipapo, was eine Schreckensgöttin so ausmacht. Und: Sie steht unter anderem für das Handeln.
Insbesondere in meiner spirituellen Community höre ich häufig den Satz „Wenn die Göttin es will (wir Tantrika haben es mit der Devī, mit Śakti), dann wird es passieren.“ Eine Beobachtung, die auch Tyler Marshall, Co-Gründer und Board Member des Tantrika Institutes in Portugal, beobachten konnte und dazu ermuntert, nicht nur zu reflektieren, sondern auch zu handeln:
„Kārma mala hindert uns daran, unsere wahre Natur zu erkennen, die im Handeln und Kreieren aus unserem Potenzial heraus besteht. Sich in diesen natürlichen Lebenszweck der eigenen Schaffenskraft hineinzugeben, mit Śakti zu co-kreieren, hilft uns sinnvoll und mit Bedeutung zu gestalten. Die andere Seite der Medaille und Herausforderung ist, dass nach meinem Gefühl eine zu starke Betonung der – nennen wir es „göttlichen Fügung“, wie etwa „Wenn die Göttin es will, wird es geschehen“ – zu einer fast erstarrten Haltung führt. Glauben, ohne selbst aktiv im Sinne dieses Glaubens zu agieren, wird auf Dauer nicht funktionieren.“ – Tyler Marshall, Tantrika Institut, Portugal
Also: Wenn du es nicht machst, wird es keiner für dich machen.
Natürlich versucht man sich einzutunen in den Vibe des Herzens, auf Empfang zu gehen, aber dann dürfen wir uns auch überlegen:
Was kann ich jeden Tag tun, um diesen Vibe auch zu leben?
Alles andere kann sonst schnell spirituelles Bypassing werden. Wenn man nur vor sich hin manifestiert, ohne umzusetzen, dann passiert eben auch nix.
Ich weiß, Handeln ist unbequem. Es macht Angst. Die ganze alte Suppe aus Glaubensmustern kann hochkommen und jede deiner Aktionen bestimmen. Aber wenn du mutig hineinspringst, deine Handlungen Ausdruck deiner Werte werden lässt, dann kannst du dich in Vibration mit dem großen Ganzen in deine Aufgabe des Handelns hingeben. Wenn du diese Chance nutzt und ganz still hineinhorchst, welches Lied in dir gesungen wird, und nach dieser Melodie deines Herzens tanzt, dann passieren Wunder. In dir und in anderen. Versprochen.
Alles Liebe,
Sandra
Über diese Serie:
In “Original Tantra” stellt dir Sandra jeden Monat die grundlegenden Begriffe der non-dualen Tantraphilsophie vor, z.B. das Weltbildes, die Schichten des Seins, die Chakren im Tantra sowie Tantrapsychologie. Hier geht’s zum vorherigen Artikel.
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