Original Tantra #6: Ānava-mala oder warum du nicht du bist, wenn du du bist

Ich erinnere mich genau an die Prüfungsstunde meiner ersten Yogaausbildung. Ich wollte gefallen, ich wollte, dass die Teilnehmenden schwitzen, die Musik geil ist, wir verrückte Asanas turnen. An sich nicht verkehrt, aber ich glaubte: So sollte Yoga sein.

Ich hatte ein bestimmtes Bild von mir als Yogalehrerin im Kopf, das ich erfüllen wollte.

Die Yogis in der Klasse sollten mich richtig toll finden, ich wollte die ganzen funky Asanas beherrschen, megagut in meinen hautengen Yogaleggings aussehen und überhaupt sollte sich das ganze nach L.A., Entertainment, hip und nach good vibes anfühlen, denn hey, Happiness is your birthright hatte ich das nicht erst letztens bei Instagram gelesen?

Diese Rolle war nur eine von vielen in meinem Leben.

Wir erfüllen so viele Rollen in unserem Leben, definieren immer mal wieder neue, legen neue Blueprints unserer Identität an. Das kann die Business Woman sein, genau wie die spirituell Suchende. 

Meine Klassen waren bumsvoll, als es sich vom Hollywood-Yoga mehr in Richtung Anusara, Kundalini, gewürzt mit einer ordentlichen Prise Gabrielle Bernstein* und “Ein Kurs in Wundern”* entwickelte. Ich sah mich sehr in Verbindung zum Göttlichen und genauso wie Gabby die Vision vom Can Opener hatte, sie sah sich sozusagen als Dosenöffner des Bewusstseins, hatte ich eine Eingebung, wie Licht in mich hinein strahlt und ausstrahlt: Das göttliche Licht. 

Und meine einzige Bitte war: Lasse mich dein Licht in die Welt bringen. An sich ist das für mich auch die eine Erfahrung, die mir zum ersten Mal einen tieferen Sinn geschenkt hatte, aber seien wir ehrlich: Ich fand mich danach verdammt heilig. Mit der Eingebung kommt natürlich auch das Gefühl, besonders, speziell, ja, vielleicht sogar auserwählt zu sein! 

Und was passiert, wenn man weiter daran glaubt?

Eine Anekdote von Danielle LaPorte aus White Hot Truth: Sie sitzt im Gesprächskreis und jeder nennt seinen/ihren Geburtsnamen und den spirituellen Namen, was dieser bedeutet und wer ihn verliehen hat. My spiritual name is Shanti. It means Peace. 

Ich kann es mir richtig gut vorstellen: Sitzkreis, alle weiß angezogen, alle lächeln bescheiden-heilig vor sich hin: Mein Name ist Beate Krabowski. Mein spiritueller Name ist Ānanda  – das bedeutet Glückseligkeit, mein Guru Swami Citghanapurna gab ihn mir im Ashram im Westerwald. Und alle anderen baumeln zustimmend mit dem Kopf oder sagen so etwas wie Willkommen,Schwester Ānanda! 

Ich liebe es, wie Danielle reagiert hat. Sie sagt mit sanfter Stimme, als sie an der Reihe ist: My name ist Danielle LaPorte. My spiritual Name is Danielle, it means Danielle. My mother gave it to me. 

Konkret: Man geht total auf in der Rolle als spirituell Suchende*r oder Heilige*r und das Ego ist unter dem Deckmäntelchen des Glaubens full throttle an.

Vielleicht fühlt man sich dabei sogar perfekt und angenommen, tatsächlich ist man aber abhängig von den äußeren Umständen – so heilig sie auch sein mögen.

In der non-dualen Tantraphilosophie heißt diese Trennung, der Glaube, dass dir irgendetwas fehlt, das du im außen findest, ānava-mala, die Unreinheit der Individualität; und sie schafft Leiden. Denn klar: Fallen die Umstände, die zu der Definition deiner Rollen und deines Glückes beitragen weg, ist auch die Happiness futsch.

Es ist der tief verwurzelte Glaube, dass du nicht vollständig, nicht perfekt bist.

Wir beginnen zu suchen, Identitäten zu schaffen, Rollen auszuprobieren wie Kostüme, um das fehlende Etwas zu finden.

Ānava-mala ist aber nicht einfach so abstreifbar und durch ein neues Glaubenssystem zu ersetzen. Die limitierende Sicht der Individualität ist mehr als nur ein fest verankertes Glaubenskonstrukt. Ānavala-mala ist in der tantrischen Philosophie Ausdruck davon, dass das unendliche Bewusstsein sich selbst erfahren möchte und dazu vergisst, dass es eigentlich alles ist (wir erinnern uns an Original Tantra #1). 

Oder ganz einfach gesagt: Die Entscheidung du zu sein, bedeutet eben auch, erst einmal alles zu negieren, was du nicht bist.

Dennoch besitzen wir gleichzeitig diese Ahnung – dass etwas fehlt, dass da mehr ist als nur die Summe der Rollen. Im Mālini Vijaya Tantra wird es folgendermaßen auf den Punkt gebracht:

„Impurity (mala) is the ignorance (ajñāna) of undifferentiated nature and the knowledge of differentiated nature. That ignorance is the cause of the sprout of samsara.”

Es ist sozusagen die Freiheit des Göttlichen, sich selbst zu limitieren, mit dem Ergebnis, dass du unbewusst der Überzeugung bist, du wärst nicht vollständig. Diese (unbewusste) Ignoranz ist verbunden mit der Wahrnehmung, dass du du bist und sich in dieser Welt die Dinge und Menschen scheinbar unabhängig voneinander bewegen.

Diese Limitierung des Selbst lässt uns im Außen suchen, um uns vollständig zu fühlen.

Da kommen Jobs und werden gekündigt, um sich in Eso-Berufen auszutoben, in der Hoffnung hier mehr Sinn zu finden, aber: Wir können diesen Sinn nur in uns finden.

Die limitierende Sicht des Göttlichen ist sozusagen das Göttliche in kontrahierter Form. Es kann nur sich selbst in Expansion wiederentdecken.

Daher ist es für uns nicht möglich, ānava-mala einfach durch andere Gedankenkonstrukte zu ersetzen – auch wenn das für die eigene Entwicklung schon einmal total hilfreich sein kann, neue Gedankenkonstrukte zu etablieren, die kongruent mit der Philosophie sind, also eine Art “reine” Parameter für dein Handeln und Denken.

Aber letztendlich ist es die spontane, freie Entscheidung des Göttlichen, sich selbst expandiert zu erfahren, die ein vollkommen ursprüngliches, elementares Öffnen für die tiefere Ebenen der Natur des Seins ermöglicht. 

In der Yogaphilosophie wird dieses Erlebnis auch śakti-pāta genannt, ein allererstes Erwachen.

Selbsthilfebücher, Workshops, dieser Text oder Affirmationen können dabei nie diese tiefe Gewissheit von Einheit schenken, denn es ist mit dem Verstand nicht greifbar und existiert auf einer Ebene, die nicht mit Worten zu fassen ist. Um diesem Wissen nahe zu kommen, der eigenen Natur zu begegnen und diese zu erleben und zu leben – darum geht es im tantrischen Weg. Der tantrische Weg kann hier eine Möglichkeit sein – ich persönlich denke, es gibt ganz viele Wege der Befreiung.

Wann beginnt die Befreiung von ānava-mala?

Wenn wir uns die „Helden“-Geschichten anschauen oder wenn ich mir nur meine eigene Geschichte anschaue, dann ist ein Faktor ganz entscheidend, um Befreiung zu erleben: Traumata und Verletzungen.

Wann beginnen wir, uns mit unseren Ebenen des Seins zu beschäftigen, Rollen zu hinterfragen? Auslöser sind fast immer herausfordernde Situationen. Es beginnt genau dann, wenn unser sorgsam aufgebautes Kartenhaus des Lebens einmal komplett einstürzt, wir auf brutalste Art und Weise mit unseren unbewussten Mustern und Vorstellungen konfrontiert werden, unseren Dämonen ins Gesicht schauen müssen.

Daher ist meine ganz eigene Interpretation von Verletzungen – und die Vollblut-Tantrika, die noch so viel mehr wissen, als ich, mögen mir verzeihen – eng mit dem Lösen von  ānavala-mala verbunden, auch wenn es ganz sicher noch viele weitere komplett andere Wege gibt.

Durch die Traumata, durch Verletzungen kratzen wir an unserer Essenz, erleben in Meditation oder wann auch immer Zustände, die das Sein an andere Dimensionen koppelt, unser Bewusstsein erweitert. 

Für mich ergeben meine Traumata und Verletzungen daher insofern einen Sinn, als dass sie mir erlaubt haben, auszubrechen.

Ich habe durch den Zusammenbruch meines Systems ernsthaft begonnen, mich zu hinterfragen, zu erweitern, radikal ehrlich mit mir zu sein. Letztendlich hat der ganze weitere Weg, die Therapie, das Hollywood Yoga, “Ein Kurs in Wundern” und dann das totale Aufgehen in der non-dualen tantrischen Philosophie und Praxis erlaubt, einen Hauch davon zu erhaschen, wie es ist, wenn man sich selbst als gar nichts sieht: Sondern schwebend gehalten erlebt, in einem unendlichen Raum von etwas, was sich ansatzweise nach Liebe anfühlt, aber noch so viel mehr ist. 

Christopher Wallis sagte in einem Satsang so schön: 

„Wenn jeder von uns verletzt ist, in irgendeiner Art und Weise, dann ist verletzt sein nicht die Ausnahme, sondern die Regel.“ 

Weitergeführt sind diese Verletzungen für mich eine Möglichkeit, sich von der limitierenden Sichtweise, in der Essenz nicht vollständig zu sein, zu lösen oder vielleicht besser: Sie sich bewusst zu machen. 

Es soll Menschen geben, die kontinuierlich in einem non-dualen Bewusstsein verweilen und dennoch lebensfähig sind, ich persönlich bin davon weit entfernt. Aber wenn man immerhin weiß, dass die Brille verschmutzt ist, kann man sich immer ein Brillenputztuch aufbewahren, um zumindest temporär eine klare Sicht zu erlangen.

Letztendlich ist das für mich der spirituelle Weg, in welchem Kostüm er auch kommen mag.

Mich in meiner tantrischen Praxis immer wieder zu hinterfragen, die kleinsten Veränderungen in meinem Bewusstsein wahrzunehmen und dieses Bewusstsein nicht nur auf den Geist, sondern auch auf den Körper auszudehnen. 

Es ist der unerschrockene Weg, sich immer wieder neu mit seinen Glaubenssätzen zu konfrontieren. Du wirfst mutig alle Rollen, auch die als positiv Wahrgenommenen, ins Feuer, im Vertrauen, nein, Wissen, dass all das, was in Flammen aufgeht, sich um einen Kern herum entwickelt. 

Um genau diesen Kern, die Verbindung zu unserer Basis, das in uns, was sich nie ändert und nicht beobachtet werden kann, darum geht es. Diesen Ort in dir wiederzuentdecken und bevor du handelst, innezuhalten, einzuchecken in diese Basis des Seins, um danach bewusste Entscheidungen zu treffen und nicht Spielball deiner Emotionen und Muster zu sein.

Es ist das brennende Verlangen, das viele spüren, tiefer in die Schichten des Bewusstseins einzudringen und die Wunder eines jeden Augenblicks zu erhaschen. Es ist das unstillbare Verlangen des kontrahierten Göttlichen, sich wieder als expandiert zu erleben. Es ist ein Aufflackern, ein Aufblitzen und Zurückerinnern an die Vollkommenheit, die Lust, sich dem irren Spiel der Welt mit Neugier und Liebe zu stellen, in dem Wissen, dass nicht alles einen Sinn ergeben muss. 

Es ist die Freiheit, die dich ruft, um zu entdecken, dass du mit der Welt schwingst und die Welt in dir.

Alles Liebe, Sandra 

Foto © Sebastian Schmidt

Über diese Serie:

In “Original Tantra” stellt dir Sandra jeden Monat die grundlegenden Begriffe der non-dualen Tantraphilsophie vor, z.B. das Weltbildes, die Schichten des Seins, die göttlichen Energien sowie die yogische Tantrapsychologie. Hier geht’s zur vorigen Folge. Und hier gehts zur nächsten.

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