Original Tantra #5: Word up! Die vier Ebenen des Wortes

Okay, ich gebe es zu. Ich bin ein Wort-Connaisseur. Ich liebe Sprache.

Manchmal fließen Worte einfach so aus mir heraus, fangen Stimmungen ein und insbesondere die Gedichte, die ich schreibe, sind purer Ausdruck meiner Praxis. Sie sind wie Gemälde – nur dass meine Leinwand ein Word-Dokument und eine Tastatur ist. 

Ich war letztens in einem Workshop der Yogafee Meghan Currie und wie immer hat sie mich nicht nur verzaubert, sondern wunderschön meine momentane Praxis hinsichtlich der vier Ebenen des Worts zusammengefasst. Sie fragte, was wäre die Energie der Worte „Spirit“ oder „Gott“? Was für ein Gefühl, für ein Zustand, damit dieses Wort kreiert wird? Was war sozusagen der Anfang vor dem Wort? 

Heute gehen wir auf eine Reise in eine mystische Welt:

in die Welt von Pārā Vāk, einer der Gottheiten meiner Tantra-Linie und den vier Ebenen des Wortes. Bereit? 

Im Tantra sind Worte nicht einfach nur Laute, die wir ausstoßen, sondern göttliche Schwingungen, Energien, die unsere Realität formen und in der Doktrin der vier Ebenen des Wortes, Vāk, beschrieben sind. 

Im Tantra kultivieren wir die Fähigkeit, die Realität wahrzunehmen, wie sie ist, also eine Wirklichkeit, bevor du sie in hübsche Gedankenschubladen kategorisiert hast. Denn wenn ich es mal ganz pragmatisch ausdrücken darf: 

Unsere Sprache funktioniert in Sachen Realität wie ein Instagram-Filter.

Sie beschreibt, wie wir die Realität wahrnehmen. Diese Beschreibung resultiert aus unseren Gedanken, die Gedanken wiederum aus den tiefliegenden Gedankenkonstrukten, unseren Vikalpas. Dabei pressen wir durch Sprache die Realität in praktische Kästchen und Förmchen, wir katalogisieren, analysieren und formieren. 

Das Modell der vier Ebenen des Wortes hilft uns dabei zu verstehen, dass unser gesprochenes Wort aus Gedanken resultiert, dass diese wiederum aus bewussten und unbewussten Überzeugungen, Prägungen und Muster entstehen und uns wieder zurückerinnern lassen an unsere originäre, ganz tiefliegende, ursprüngliche Intuition.

Die erste Ebene des Wortes, Vaikharī Vāk: Du in Verbindung mit der Welt

Im Tantra ist unsere alltägliche Sprache Vaikharī Vāk, die erste Ebene des Wortes. Philosophisch gesehen ist diese Ebene auch streng dual, weil es in dem gesprochenen Wort immer darum geht, einen Bezug herzustellen zu etwas oder jemanden. Du in Verbindung mit der Welt. Unsere Sprache ist dabei ein wichtiges Hilfsmittel uns zu zeigen, wie wir die Welt sehen und welche Annahmen dahinter liegen. 

Das kannst du ganz leicht selber herausfinden und die nächsten Tage in ein Journaling einbauen. Setze dich einfach ein paar Minuten immer mal wieder hin und frage dich: Welchen „Filter“ hast du gewählt, um diese Situation zu beurteilen? Ist deine Annahme dazu wirklich wahr? 

Das schließt auch die Beziehungen zu deinen Mitmenschen ein, denn Worte sind letztendlich auch Handlungen. Welche Handlungen führst du verbal gegenüber anderen Menschen aus? Und was drückst du damit aus? Notiere dir Lieblingsworte, prägnante Sätze. Und dann schaue dir ganz in Ruhe an, was dies über dich aussagt.

Ich habe diese Übung in meinem Handel Group-Coaching gemacht. Ich musste aufschreiben, was ich über mich und andere denke und das Ergebnis war erschütternd. Ich war damals noch so unfassbar eitel, wobei ich dachte, ich hätte das doch längst abgelegt. Ich habe ständig vorm Spiegel über mich geurteilt; ich hatte quasi eine innere Heidi Klum, die mir andauernd ins Ohr raunzt, dass es heute leider kein Foto für mich gibt.

Also, probiere diese Übung aus und ich garantiere dir, es wird für dich ganz viele Aha-Momente geben.  

Die zweite Ebene des Wortes, Madhyamā Vāk: Klaus und Klaus und der Baum in meinem Kopf 

Lehne dich mal ganz entspannt zurück und stelle dir das Folgende wie ein Theaterstück vor. Bereit? Los geht’s! 

(Gesang ertönt) Klingelingelingklingelinghierkommtdereiermann. Klingelingeling….(Stimme aus dem off) Herrlich, Sonnenschein, wie Yoga sich wohl auf Pott anhört…(Das Bild eines Baumes blitzt plötzlich auf).(Gesang wird wieder lauter). EIERMANN!!! KLINGELINGELINGKLINGELEING….(Stimme aus dem Off) Bestimmt so. (Stimme wechselt von weiblich zu männlich): Hömma getzt ma alle tief einatmen und dann wie sonnen Schluck Wasser inna Kurve ausatmen bisse die Hände anne Füße kriechst…(Gesang drängt sich wieder hinein, diesmal penetranter) EIERMANN!!Klingelingeling….

Ich darf dich willkommen heißen: Nämlich im Innersten, in meinem Kopf

Was sich gerade nach geschlossener Psychiatrie angehört hat, ist nur die Sprache meines Verstandes. Und die deines übrigens auch. Wir alle denken in Satz-Fragmenten, Wörtern, Bildern und manchmal eben auch in Songs. Im Englischen gibt es für diese “Sprache des Kopfs” den schönen Begriff Mentalese. Mentalese ist gleichzeitig auch die zweite Ebene des Wortes im Tantra, Madhyamā Vāk. 

Madhyamā Vāk ist die Ebene der Gedanken, des internen Diskurses. Diese zweite Ebene formt, was wir letztendlich sagen und ist begründet in unseren Glaubenssätzen und -konstrukten, unseren Vikalpas. Auf dieser zweiten Ebene agiert das Ego genauso wie die Kontemplation, das Verurteilen ebenso wie die Imagination. 

Die zweite Ebene ist also per se weder etwas explizit Gutes, noch Schlechtes, sondern einfach ein stinknormaler natürlicher Prozess, auf der sich der Intellekt genauso wie die Imaginationskraft befindet. Wenn bewusst mittels Meditation, Kontemplation und Visualisierungen praktizieren, üben wir quasi, wie Wallis schreibt, „Mind-Asanas“, in dem wir mehr und mehr wahrnehmen, uns öffnen, und zwar nicht nur für für nicht nur unsere Realität, sondern ganz viele mögliche Sichtweisen.

 

Die dritte Ebene des Wortes, Paśyanti Vāk: Herz oder Konditionierung? Das ist hier die Frage!

Eine der Top-Sätze im Spiritual Bullshit Bingo lautet: “Folge deinem Herzen!” Das hört sich wahnsinnig schön an, aber tatsächlich kann es bedeuten, dass wir unseren schön fest verankerten inneren Konditionierungen folgen und eben nicht dem, was wir im non-dualen Tantra Icchā Śakti nennen, das präkognitive Verlangen etwas zu tun. 

Ein Beispiel: Ich war ziemlich nah dran, ein Buch zu schreiben. Über eine Freundin hatte ich eine Literaturagentin gefunden, diese fand das Exposé spitze. Und ich? Ich habe mich auf der Frankfurter Buchmesse 2020 gesehen und legte los mit dem Schreiben, denn es fehlte nur noch die Leseprobe, „dann legen wir los, Frau von Zabiensky“, so die Agentin. 

Gesagt getan, ich schrieb und schrieb, korrigierte, ließ die Leseprobe von Freundinnen lesen, schickte es ab und dachte: das wird was. Nun, es wurde nichts. Die Agentin sagte sofort nach dem Lesen des Textes ab. Was war passiert? Um ganz ehrlich zu sein: Es war nicht Icchā Śakti. Es war kein Verlangen, ein Buch zu schreiben oder besser: dieses Buch zu schreiben. Es war aber eine Mischung aus Strebsamkeit und Arbeitseifer und ganz ehrlich, ja, es ist peinlich: Eitelkeit. Wäre schließlich super, so ein Buch! 

Das Ganze war ein Paradebeispiel, wie man eben nicht hineinhorcht, in die dritte Ebene des Wortes: Paśyanti Vāk. Diese Ebene ist wortlos, pure Energie. Hier existieren unsere inneren, aus Gedanken resultierenden Überzeugungen als Energie genauso wie unsere wahre Intuition, prathibā. Der Unterschied: Während die wahre Intuition sich aus dieser Ebene formt, existieren zwar unsere Mus,ter als Energie auf dieser Ebene, entstehen aber aus unseren Gedanken, der zweiten Ebene des Wortes. 

Wie können wir aber nun unterscheiden, ob wir aus wahrer Intuition handeln oder nur den Mustern folgen? 

Dr. Christopher Wallis hat hier einen guten Rat: „Wenn du deine Intuition in Frage stellst, und dieses Bauchgefühl doch von deinen Samskaras herrührt, wird dein Verstand sie rechtfertigen und Argumente für den Gedanken liefern.“ Dazu steht laut Wallis im Gegensatz dazu die echte Intuition: ein Wissen, ohne Rechtfertigung, ohne pro und contra, sondern nur die absolute Gewissheit, dass du genau das tun musst. 

Das Schöne ist: Auf dem Yogaweg übt man, seine Samskaras aufzulösen, wirklich tiefe Heilung auf dieser dritten Ebene anzustoßen und insgesamt mehr in Einklang mit der vierten Eben des Wortes zu kommen – Parā Vāk. 

>> Tipp: Hör mal in Sandras Podcast rein! Icchā Śakti findest du ein Ritual zum Lösen von Samskaras.

Das Ganze klappt dann im Alltag mal gut, mal weniger gut. Ist aber eine ungeheuer faszinierende Angelegenheit. Da kann es schon einmal passieren, dass ich meinen Freund anraunze wegen einer Kleinigkeit, stinkwütend bin und gleichzeitig irgendwie staunend dahinter stehe und mich frage, woher bitte diese ganze Aggression kommt. 

Die vierte Ebene des Wortes, Parā Vāk: Das höchste Wort ist kein Wort

Wie soll man Parā Vāk in Worte fassen? Für mich ist das momentan unglaublich schwierig, weil diese Ebene gleichzeitig göttlich ist, die höchste, ultimative Realität, Bewusstsein, das durch Selbstreflektion sich selbst erfährt und gleichzeitig auch eine Göttin, die der große tantrische Philosoph Abhinava Gupta in folgenden Vers beschrieb:

„Sie ist das ursprüngliche, unkreierte Wort, die wesentliche Essenz der höchsten Realität, alles Dinge durchdringend und für ewig in kreativer Bewegung: Sie ist das leuchtende, pure Bewusstsein, vibrierend in der allerhöchsten Subtilität in allen Wesen.“ – An Exposition of the Thirty Verses of Parā, Dr. Christopher Wallis

Ich fand es anfangs schwer, das alles zu verstehen, ich habe versucht eine Ordnung hineinzubringen, in die Gottheiten, in die Bezeichnungen. Wie kann Para Vāk alles durchdringendes Bewusstsein sein? Ist das nicht Shiva? Ja. Auch. Alles ist Shiva. Oder alles ist Parā Vāk. Oder Parā Devi.

Du möchtest mit Sandra von Zabiensky Yoga üben? Dann schau bei YogaEasy* vorbei! Dort findest du Yoga-Videos von Sandra mit verschiedenen Längen und Levels. Über www.yogaeasy.de/flgh erhältst du einen Gratis-Test-Monat ohne nervige automatische Abo-Verlängerung.

All das ist für uns vielleicht begreifbarer, wenn wir an einen Zustand denken, der im Sanskrit Chamatkāra heißt. Vielleicht hast du ihn schon einmal bei einem Sonnenaufgang erlebt. Oder bei der Geburt deines Kindes. Vielleicht bei einem tiefen Atemzug inmitten eines Waldes. Es ist ein Zustand, in dem du völlig aufgehst, in dem du gleichzeitig komplett dir selbst bewusst bist, aber auch allem um dich herum. Du bist schlicht hingerissen und staunst in Ehrfurcht vor der Welt, die sich dir in Anmut, Einzigartigkeit und Schönheit zeigt. 

Du begreifst dich nicht getrennt, sondern im Innersten verbunden mit der Quelle, aus der alles entsteht.

Original Tantra #5: Word up! Die vier Ebenen des Wortes
Camatkar Asana © Steven Ritzer

Aus diesem Wort ist übrigens auch eine Asana gebildet: Camatkar Asana – das eben nicht Wild Thing heißt, sondern eigentlich den Zustand der Ekstase darstellt, die man auf der Ebene von Parā Vāk empfindet. 

Camatkar Asana gibt für mich persönlich dem Zustand eine Form, so dass wir Parā Vāk auf allen Ebenen, auch im Körper, verstehen können. Es ist eine Haltung, die versinnbildlicht, wie wir Para Vāk erleben: Alles umfassend. Weit in der Tiefe unseres Herzens und dennoch stark verbunden mit dem Grund, auf dem wir stehen und in den wir wieder gehen. 

Vielleicht auch für dich ein neuer Praxis-Ansatz, wenn du das nächste Mal auf der Matte stehst.

Alles Liebe, Sandra 

Fotos © Steven Ritzer

Über diese Serie:

In “Original Tantra” stellt dir Sandra jeden Monat die grundlegenden Begriffe der non-dualen Tantraphilsophie vor, z.B. das Weltbildes, die Schichten des Seins, die göttlichen Energien sowie die yogische Tantrapsychologie. Hier geht’s zur vorigen Folge.

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