Ich bin nicht perfekt – so what? Mit Wabi-Sabi Makel zelebrieren

Sonnenuntergang am Strand, einen Kokosnussdrink in der Hand und die Haare wehen sanft im Wind. Das kürzlich gepostete Instagram-Foto von einer Influencerin lässt mein Herz schmerzen. Was für ein perfektes Leben! Im Vergleich dazu ist meins eine Baustelle. Überall sind offene Schlaglöcher; Absperrungen umzäunen unfertige Projekte. Fertigstellung nicht in Sicht.

Das Wort Perfektion setzt sich aus dem Lateinischen per (ganz) und facere (machen) zusammen

Sobald wir etwas als nicht perfekt empfinden, scheint es unvollständig zu sein. Etwas fehlt. Es fühlt sich so an, als ob wir das volle Potenzial der Situation nicht ausschöpfen und uns dadurch etwas verwehrt bleibt.

Die Check-Liste für ein perfektes Leben hat kein Ende.

Erfolgreich im Beruf, finanzielle Fülle, exotischer Urlaub, großer Freundeskreis, coole Hobbys, stylische Wohnung, durchtrainierter Körper… Werbung, Social Media und Co gaukeln uns vor: Das sind die must-haves für ein perfektes Dasein auf dem Planeten. Immer schön einen Punkt nach dem anderen abhaken, um den Zustand der absoluten Glückseligkeit zu erreichen?

Müssen wir wirklich immer perfekt sein?

Klar, der Wunsch nach Verbesserung treibt den Fortschritt an. Aber ich habe das Gefühl, dass unsere Gesellschaft einen Punkt erreicht hat, an dem die Obsession nach Perfektion aus dem Ruder geraten ist. Da sind soziale Medien keine große Hilfe. Jeder Pickel auf dem Instagram-Foto wird wegretuschiert, das schlechte Wetter mit einem Filter verschönert und der nervige Typ am Strand rausgeschnitten.

Es entsteht eine spiegelglatte Illusion, die uns vorgaukelt, erst durch das Ausbessern der Makel ein glückliches Leben führen zu können

Aber müssen wir wirklich immer perfekt sein? Eine Antwort darauf findet sich erstaunlicherweise in einem charakteristischen Merkmal der traditionellen japanischen Ästhetik namens Wabi-Sabi.

Wabi-Sabi zelebriert Imperfektion und Unbeständigkeit

Es ist demnach das direkte Gegenteil zu den griechischen Idealen der Schönheit im “Westen”. Häufig wird der Begriff im Zusammenhang mit Architektur und Kunst verwendet. Dort steht Wabi-Sabi für schlichtes Design, einfache organische Strukturen, Asymmetrie und Gebrauchsspuren. Doch das Konzept geht weit über Ästhetik hinaus.

Wabi-sabi is an intuitive appreciation of a transient beauty in the physical world that reflects the irreversible flow of life in the spiritual world. It is an understated beauty that exists in the modest, rustic, imperfect, or even decayed, an aesthetic sensibility that finds a melancholic beauty in the impermanence of all things.  

Andrew Juniper

“Wabi” steht für die Sehnsucht nach Einsamkeit und Schlichtheit.

Das Wort “Wabi” stammt von dem Begriff “wabiru” ab, das sich mit dem Verb “sich nach etwas sehnen” beschreiben lässt. Auch steckt das Wort “wabishii” in Wabi, welches mit dem Adjektiv “verlassen, einsam” übersetzt werden kann. Wabi unterstreicht die Schönheit, die den simplen Dingen des Lebens innewohnt. Weniger ist mehr ist hier die Devise.

“Sabi”, das Vergängliche, wirft ein neues Licht auf Gebrauchsspuren und vermeintliche Makel.

Die Patina auf einem alten Holztisch, ein Kratzer auf dem Handybildschirm oder die Lachfältchen auf dem Gesicht unserer Liebsten: Das Leben besteht nicht aus Standfotos, sondern ist ein fließender Film.

Durch die Spurten der Vergänglichkeit wird ein Objekt erst ästhetisch ansprechend und einzigartig. Die Schönheit wird nicht durch Perfektion oder Jugendlichkeit hervorgerufen, sondern reift mit fortschreitendem Alter. Die Transformation eines Objekts macht es zu etwas besonderem, da es eine Geschichte erzählt und es sich somit von anderen abhebt.

“Beim Anblick der makellosen Haut der Influencerin mit dem Abermillionen Likes auf Instagram, fühlt sich Wabi-Sabi wie eine angenehme kühle Hand auf meinem durch Stress erhitzen Hirn an.”

Der Wabi-Sabi way of life entstammt dem Zen Buddhismus des 16. Jahrhunderts.

In Japan war zu dieser Zeit das Teetrinken ein festlicher Akt, bei dem hochangesehene Mitglieder des Adels sich in luxuriös eingerichteten Teehäusern trafen, um zu netzwerken. Mit teuren Porzellantassen und edlem importierten Tee wurde der eigene Reichtum demonstriert.

Die Zen-Mönche hingegen schufen ein Ritual, das sich gegen diese Zurschaustellung richtete. Ziel der Zen-Teezeremonie war es, wieder zurück in sein Inneres zu finden, um Harmonie und Gelassenheit zu erleben. An die Stelle von makellosem, kostbarem Geschirr traten abgenutzte Tassen, die Schlichtheit und Vergänglichkeit repräsentierten. Bescheiden zelebrierten sie die Imperfektion des Lebens, die Einzigartigkeit, die durch Makel entsteht, und die Flüchtigkeit des Moments.

Wabi-Sabi your life!

Egal ob du gerne Tee schlürfst oder nicht, Wabi-Sabi lässt sich auch auf dein Leben übertragen:

Kein Bock mehr auf Photoshop-Schönheit 

“Loving your own body is an act of resistance” steht auf einem Sticker, der letztens im Büro herumlag. Aber hallo, denke ich mir. Werde zum*zur Rebell*in der Schönheitsindustrie. Perfektion hat lange genug das Ideal unserer Gesellschaft dominiert, es wird Zeit für eine Veränderung. #bodypositivity und Plus Size Models führen diesen Wandel zwar ein, dennoch krallt sich die Idee, einem Ideal entsprechen zu müssen, weiter in vielen Köpfen fest.

Modemagazine präsentieren stets die neuesten Methoden, mit Kleidung die eigenen “Makel” zu kaschieren. Du bist Körpertyp A? Finger weg von engen Schlauchkleidern! Du hast kräftige Oberschenkel? Mach einen großen Bogen um gemusterte Hosen.

Müssen wir uns wirklich in diese Schablonen quetschen, um schön zu sein?

Kintsugi ist die Antwort darauf: Bei dieser japanischen Reparaturmethode werden Brüche oder fehlende Stücke im Porzellan mit einem Lack geklebt, der im Nachhinein mit Gold oder Silber bestreut wird und somit die Risse hervorhebt.

Im Kontrast zu herkömmlichen Reparaturmethoden wird der Fehler also nicht unsichtbar gemacht, sondern bewusst ins Zentrum der Aufmerksamkeit gestellt. Erst durch den Makel des Gegenstandes wird er zur veredelten Kunst.

„Perfekten Menschen fehlt es an Fehlern.“ – Ernst Ferstl

Deine „Makel“ sind dein Markenzeichen!

Schon seit ich klein bin, finde ich meine Füße zu groß. Ständig hielt ich nach Schuhen Ausschau, die meine Größe 43 wie eine 39 wirken lassen sollten. Bis ich über einen Ratschlag stolperte, der, im Nachhinein betrachtet die Wabi-Sabi Philosophie optimal widerspiegelt: “Mach deine Makel zum Markenzeichen!”

Seit dem streue ich imaginären Goldstaub auf meine großen Füße und trage absichtlich Dr. Martens Schuhe, die den Eindruck erwecken, ich würde in U-Booten laufen. Wenn schon, denn schon! Ich habe Frieden mit meinen Füßen geschlossen. Sie unterscheiden mich von anderen und sind deswegen genauso wertvoll wie meine Schokoladenseiten.

Du bist das Wabi zu meinem Sabi: Imperfektion in Beziehungen

Den Beschreibungen aus Büchern und Filmen zufolge sind perfekte, rosarote Beziehungen voller blinkender Herzemojis real. In meinem Leben ist das leider nicht der Fall.

Mach es wie die Samurais!

Wenn Krieger im alten Japan ein Teehaus betraten, wurden sie stets gebeten, ihre Schwerter und Waffen draußen zu lassen. Als sie sich in die oft winzigen Häuschen zwängten, um an einer Teezeremonie teilzunehmen, streiften sie ihre Ansprüche und Konflikte ab.

Ich glaube, dass darin die Kunst von Beziehungen liegt.

Sich nicht selbst ein dickes Kostüm anzuziehen, um den anderen ein perfektes Ich vorzuspielen. Wie kann man von den Menschen um einen herum erwarten, dass sie einen verstehen, wenn man ihnen nicht die Person zeigt, die man wirklich ist? 

Als ich angefangen habe, in meinen Beziehungen nicht mehr an der Oberfläche herum zu planschen, sonder tiefer zu tauchen, kam es zum Upgrade. Ich begann mich so zu geben wie ich bin, mit all meinen Unsicherheiten, Ängsten, Sorgen und manchmal unverständlichen Gedanken, und die Verbindung zu den Menschen um mich herum wurde um einiges stärker. Ich kann mich darauf verlassen, dass sie mich für die Person schätzen, die ich bin, und nicht für irgendeine perfekte Maske, die ich mir vor mein Gesicht halte.

Deine Makel und Macken freizulegen, erfordert Mut.

Auf einen Schlag machst du dich angreifbar und verletzlich. Doch indem du Frieden mit deinen Imperfektionen schließt, kannst du von der Schnellstraße Richtung Perfektion abfahren, und dich und deine Beziehungen so genießen, wie sie in diesem Moment sind.

Wenn hohe Ansprüche die Sicht versperren

Hohe Ansprüche sind Fluch und Segen zugleich. Zum einen regen sie dich zur Weiterentwicklung und Veränderung an. Sich stets mit allem zufrieden zu geben, schafft keinen Raum für Wachstum. Zum anderen haben mich meine hohen Ansprüche häufig blockiert. Jeder Moment kann stets verbessert und optimiert werden. Nur leider gibt es dafür kein Limit, das Fass ist niemals voll.

Die Kostbarkeit des Augenblicks zu wertschätzen, spielt in der Wabi-Sabi Philosophie eine große Rolle. Jeder Moment ist unwiederbringlich und kann niemals zweimal erlebt werden. Oft blockieren wir uns jedoch darin, das Leben so zu genießen, wie es ist, indem wir es mit großen Erwartungen verbauen. Hierbei gilt zu beachten, stets sicher zu gehen, dass deine Ansprüche realistisch bleiben. Indem sie realisierbar sind, können sie dich motivieren und weiter treiben, ohne dich in ein Hamsterrad der unrealistischen Utopien zu verfrachten.

Wabi-Sabi Work  

Die eigene Arbeit ist zum Statussymbol avanciert. Deswegen ist die Frage nach dem Beruf  eine der ersten, die uns in einem Gespräch mit einem Fremden erwartet. Die Antwort darauf kann uns innerhalb von Sekundenschnelle in eine Schublade stecken. Je angesehener der Beruf ist, desto beeindruckender wirkst du auf dein Gegenüber. Kein Wunder, dass so viel Erwartungsdruck auf der eigenen Karriere liegt.

Die Allnet-Flat für Erfolg enthält leider auch Fehler.

In den Erfolgsgeschichten bekannter Personen wird Fehlern meistens nicht sehr viel Beachtung geschenkt. Dadurch entsteht schnell der Eindruck, dass Ausrutscher nicht ins Spiel gehören. Lücken im Lebenslauf, Fehltritte im Job, Zielverfehlungen, warum muss das immer mir passieren?

Wabi-Sabi hingegen sagt: Immer her damit! Das Leben ist nun mal keine TV-Romanze, sondern ziemlich messy. Aber genau das macht es aufregend und bunt. Verabschiedest du dich von dem Gedanken, alles müsse perfekt sein, kannst du erkennen, wie Stolperer das Potenzial in sich tragen, dich auf neue Wege führen und dir Orte zeigen, von denen du nie zu träumen gewagt hast.

Nichts ist perfekt und wird es auch niemals sein.

Warum es sich selbst so schwer machen? Öffne deine Augen für die Schönheit der fehlerhaften Dinge, zelebriere die Imperfektion in all ihren Formen und lass dich von Wabi-Sabi dazu inspirieren, jeden Moment mit all seinen ups and downs zu genießen.

Titelbild via Unsplash

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7 Kommentare / Schreibe einen Kommentar

    1. Liebe Eva, danke für dein liebes Feedback! Freut mich sehr, dass dir der Artikel gefällt ♥️ Sehr zu empfehlen ist auch das Buch „Nicht perfekt und trotzdem glücklich!: Der asiatische Weg zu mehr Gelassenheit“ von Christopher A. Weidner. Ganz liebe Grüße!

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