Yoga von der Stange: wenn Gruppen-Klassen plötzlich nerven

Group learning is fine, maybe to children.

Indra Mohan

Da war ich also, Matte an Matte, Raum knallvoll. Wir üben Umkehrhaltungen. Ein gut gebauter Mann mittleren Alters auf 13 Uhr zeigt, wie gut er vom Handstand in Chaturanga gleiten kann. Der Typ neben mir hingegen pfeift mit hochroter Birne aus dem letzten Loch. Von Atmen kann da nicht mehr die Rede sein. Ich versuch mich auf den Atem im Hund zu konzentrieren. Doch der Typ schräg rechts hinter mir, nennen wir ihn mal den Venushügelscanner, lässt soeben seinen Drishti (im Yoga nennen wir so die Richtung des Blickes) über die Reihe der Damen vor ihm wandern, die im nach unten schauenden Hund verharren. Natürlich tragen wir alle enganliegende Leggings, 79 Euro aufwärts. Und der Lehrer, ich glaub der checkt die Musikanlage.

Das ist der Moment, in dem ich mir denke: Irgendwas ist hier doch schief gelaufen. Wo ist Yoga?

Der Punkt ist: Yoga für Erwachsene war ursprünglich nicht als Gruppenklasse gedacht. Sondern als Einzelunterricht.

Ein Lehrer, ein Schüler. Und das wichtigste: der Schüler übt die meiste Zeit selbst. Und ständig. Wenn in seinem Üben Fragen aufkommen, er Unterstützung, Inspiration oder Wissen braucht, dann ist sein Lehrer da, den er ansprechen kann.

So war es von je her. So hat es auch Krishnamacharya sein Leben lang gehalten. Sri T. Krishnamacharya wird sehr oft Vater des modernen Yoga genannt. Das trifft es zwar nicht ganz, ihm haben wir es aber wahrscheinlich zu verdanken, dass wir heute alle Yoga üben können.

Teach what is appropriate for an individual

Sri T. Krishnamacharya

Das war die Basis seiner Lehren. Das war es, was er seinen Schülern beigebracht hat. Doch was heißt das für uns heute?

Müssen wir uns jetzt alle einen Privatlehrer suchen?

Ja und nein. Gerade am Anfang ist es sinnvoll und motivierend, wenn du in Gruppenklassen gehst. Du kannst dich erstmal orientieren, mehr über die Lehren des Yoga erfahren und zusammen mit anderen zu üben.

Doch irgendwann übst du Jahre um Jahre und merkst vielleicht: Wirklich verändert hat sich nichts. Dein Körper ist fitter und knackiger geworden. Das schon. Aber fragst du dich manchmal:

  • Wie bekomme ich meine Gedanken ruhiger und klarer?
  • Wie kann ich besser mit diesem verdammten Stress umgehen?
  • Was mache ich, wenn ich Liebeskummer habe?

Mir ging es oft so. Das war der Moment, in dem ich wusste: Ich muss meine Praxis verändern. Und ich sage dir: Deine Yogapraxis kann mehr, als du denkst. Überleg mal: Wie wäre es, wenn du mit deiner Yogapraxis endlich auch den ewigen Stress in den Griff, peace of mind und ein Tool, das dich auch in Extremsituationen unterstützt, bekommst?

So vertiefst du deine Yogapraxis in fünf Schritten

1. Prüfe, ob diese Art Yoga zu üben wirklich noch zu dir passt

Manchmal machen wir Dinge nur aus Gewohnheit. Deshalb beantworte die folgenden Fragen. Gut ist, wenn du viele mit einem klaren „Ja!“ beantworten kannst.

  • Übst du in den Stunden Haltungen, die auf deine persönlichen Bedürfnisse zugeschnitten sind? Für deine sensiblen Knie, die Bandscheibe in der Lendenwirbelsäule, die dich schon seit Jahren ärgert, deinen empfindlichen Nacken und deine Rückenmuskeln, die ein bisschen mehr Kraft vertragen könnten?
  • Zeigt der Lehrer Variationen zu den Haltungen, falls du etwas nicht üben kannst?
  • Kannst du in den Gruppenstunden ruhig und gleichmäßig atmen oder geht es da ums Mithalten?
  • Bringt dir Yoga in der Gruppenklasse auch tiefer etwas, um besser mit deinen Gedanken und Gefühlen klar zu kommen?
  • Ist dein Lehrer/deine Lehrerin auch nach der Stunde ansprechbar für deine Fragen?
  • Kannst du ab und zu eine Einzelstunde mit deinem Lehrer/deiner Lehrerin vereinbaren?

2. Finde einen Lehrer

Es ist sehr wertvoll, einen Lehrer oder eine Lehrerin zu haben, an die du dich wenden kannst, wenn du in deiner Yogapraxis Unterstützung brauchst. Wer das ist, entscheidest du alleine. Fühlst du dich in deinem Kern gesehen? Kann er oder sie einen Raum schaffen, in dem du dich wohl und sicher fühlst? Magst du die Person?

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Adrienn mit ihrer Lehrerin Indra Mohan

So schön es ist, Lehrer zu haben, so wenig ändern sie, wenn du nicht selbst am Start bist. Deshalb:

3. Üben, üben, üben. Und zwar alleine.

Du übst. Selbst. Regelmäßig. Das kann dir keiner abnehmen. Du musst es tun. Und du weißt, was du üben kannst. Weil du von deinem Lehrer etwas bekommen hast, was du alleine zuhause üben kannst. Sei es eine Asana-Sequenz, eine bestimmte Atemübung, ein Mantra oder eine Meditation. Oder alles zusammen. Mein Lehrer A. G. Mohan sagt oft:

Be clear of what you’re doing and make it real in the context of your own life.

Mach dir klar, welche Themen in deinem Leben gerade brennen. Hole dir Tools aus dem Yoga, von jemandem, den du als du als verlässlich empfindest, einer Quelle, der du vertraust. Dann hilft nur noch eines: Übe, was auch immer du übst. Damit du die konkreten Baustellen in deinem Leben wieder in Ordnung bringen kanns.  Dabei geht es nicht in erster Linie darum, komplizierte Asanas zu meistern. Es geht darum, ein gutes, möglichst leichtes, leidfreies Leben zu führen.

Natürlich: Leid ist unvermeidlich. Die Frage ist nur, wie du damit umgehen kannst. Das Zaubermittel: Beruhige und kläre den Geist. Denn er ist es, der die Probleme bereitet beziehungsweise verstärkt. Und dafür brauchst du Training an deinem Geist (Lesetipp hierzu Artikel, Masters of the mind, the Hindu, Aug 19, 2016).

4. Finde deinen Anker. Einen, der immer funktioniert

Okay, angenommen, du hast eine Weile geübt. Du hast herausgefunden, welche Instrumente (aus dem Yoga) dich zuverlässig beruhigen. Deinen bombensicheren Anker quasi.

Hier ein Beispiel: Du hast beim selbständigen Üben gemerkt, wie sehr dich ein bestimmtes Mantra berührt. Egal wie sehr dich der Streit mit deinem Freund aufwühlt, kannst du dein Kopfkino mit dem Rezitieren des Mantras beruhigen. Wenn du Bauchschmerzen hast, weißt du genau, welche Haltungen dir an solchen Tagen Linderung verschaffen. Wenn du nicht mehr weißt, wo dir der Kopf steht vor lauter Stress, dann weißt du: zwei Minuten Gehen durch den Park mit Konzentration auf den Atem hilft immer.

Glückwunsch, du hast deine eigene Praxis gefunden. Deinen Anker. Benenne deine Lieblingstechniken. Vielleicht hilft es dir, wenn du sie dir auch aufschreibst.

Der Punkt ist: Wenn du selbst immer wieder positive Erfahrungen mit einer bestimmten Übung gemacht hast, dann wird dir die Übung auch in der schwierigsten Stunde deines Lebens einfallen. Und sie dir vielleicht ein bisschen leichter machen.

5. Du bist soweit: Tauche richtig tief ein

Jetzt heißt es: Erfahrungen vertiefen. Und zwar so: Übe immer weiter, selbständig. Bis du merkst: Dein Geist wird ruhiger. Bei wichtigen Entscheidungen musst du nicht erst zehn Leute vorher fragen. Stattdessen weißt du, wie du dich selbst runter bringen kannst. Dir fällt es immer leichter, ein Gefühl von innerer Ruhe zu schaffen.

Vor einer schwierigen Entscheidung setzt du dich hin, fährst dich runter in diesen Zustand von ruhiger Klarheit. Und dann weißt du plötzlich, was zu tun ist. Dann triffst du Entscheidungen, basierend auf einem ruhigen klaren Zustand in deinem Geist. Und wahrscheinlich sind das gute Entscheidungen, die dein Leben in eine gute Richtung führen können.

Im Yoga Sutra (Kap I, Vers 20) spricht Patanjali von śraddha. Gemeint ist damit eine Art innere Gewissheit, die aus einem klaren Geist resultiert. Mein Lehrer Ganesh Mohan hat dazu mal ein paar sehr schöne Sätze gesagt:

“My mind is very calm and clear. So that I’m very sure what I should do. Faith is in somebody else. If I know for myself. I KNOW it. And I also understand it… It cannot come from belief. Because one day I believe one person. And the other day I believe another person. But I have experienced it myself. And so my practice becomes very stable and strong.”

Nur deine eigenen guten Erfahrungen bringen dich dazu weiterhin dran zu bleiben. Weil du es mittlerweile als so hilfreich empfindest, dass du üben willst. Weil du so positive Erfahrungen mit deinem Üben gemacht hast. Das ist der Punkt, an dem sich deine Praxis verändert. Ich kann es dir nicht besser erklären, denn du musst es selbst erfahren.

Und jetzt? Nie mehr in eine Yoga in der Gruppe

Doch. Wenn du ab und zu eine Gruppenstunde besuchen möchtest, dann spricht da nichts dagegen. Du kannst dir in den Gruppenstunden immer wieder Inspirationen holen, Sätze aufschnappen, die dein Lehrer sagt und neue Dinge lernen, die du dann in dein eigenes Üben einbaust.

Nimm genau die Gruppenstunden als Praxis, dich zu beobachten. Frag dich immer wieder:

  • Kann ich ruhig und gleichmäßig atmen?
  • Übe ich gemäß meiner Verfassung oder will ich nur mithalten?
  • Fühle ich mich danach gut und frei?

Übe so oft du kannst deine eigene Yogapraxis. Und vielleicht einmal die Woche ins Yogastudio. Das könnte eine vernünftige Regel sein.

Und ja, ich unterrichte selbst Gruppenstunden und zermartere mir seit Jahren das Hirn, wie wir mit diesem Format Gruppenstunde, das sich jetzt offensichtlich bei uns als Norm eingeprägt hat, umgehen können und uns mehr hin zu individuellem Üben entwickeln. Also, wenn ihr Ideen habt, ab damit in die Kommentare!

Zum Schluss noch ein paar Lesetipps:

Viel Freude beim Lesen und Üben.

Alles Liebe,
Adrienn

Titelbild: Kristian Rüb

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8 Kommentare / Schreibe einen Kommentar

  1. Vielen Dank für diesen tollen Artikel, der mich sehr zum Nachdenken gebracht hat. Ich musste aus verschiedenen Gründen letztes Jahr ohne ein Yogastudio auskommen (hallo italienische Pampa) und bin trotz regelmässiger Zu-Hause-Praxis froh, endlich wieder in eine Klasse mit Lehrer gehen zu können. Trotzdem stimme ich deinem Artikel zu und wollte kurz von den Yogastunden meiner Mama berichten, die sie netterweise immer an mich abtritt, wenn ich zu Besuch bin. Ihre Lehrerin hat nämlich feste Gruppen, die voll sind, wenn sie voll sind, also kein Gequetsche in ihrem Yogaraum (ein grosser Raum/Art Wintergarten in ihrem Haus mit Blick auf einen tollen Garten). Die Gruppe besteht mittlerweile seit vier Jahren, natürlich mit einigen Wechseln, aber die Lehrerin kennt ihre Schüler und all deren Probleme oder Problemchen und geht darauf ein. Ausserdem gibt es „Hausaufgaben-Übungsanleitungen“ für die, die möchten. Jede Stunde beginnt mit ein paar Sätzen und der Frage, ob es Fragen gäbe. Die Gruppe ist total gemischt und 80 Euro Leggins trägt niemand. Ob dieses Model so gut funktioniert, weil es auf dem Land ist? Ich wollte das jedenfalls kurz teilen. Alles Liebe und danke nochmal für den Artikel!

  2. Ein schöner Artikel, liebe Adrienn! Gerade in letzter Zeit fällt mir auf, dass ich immer mehr lieber Zuhause auf der Matte praktiziere, statt im Yogastudio, in einer vollen Klasse, wo ich nur mithetze. Meine Mitte ist 1-2 x in der Woche meine Lieblinkskurse zu besuchen, das gibt mir Inspiration für den eigenen Unterricht und der Rest ist Eigenpraxis.
    Love, Marina

  3. Liebe Alle, alleine üben ist eine wundervolle Sache, doch in der Gruppe üben auch! Lernen wir nicht u.a. im Yoga, dass es nicht die Sache ist, die nervt, sondern unsere Einstellung dazu – also wir selber? Warum geht es vielen Yogis so oft, um das „Richtige“, wie Yoga „richtig“ und „gut“ ist? Das ist doch von Mensch zu Mensch unterschiedlich und von Tag zu Tag, nicht? Alleine üben ist für vieles super und supertoll im Artikel beschrieben. Warum kann das nicht NEBEN dem Gruppenunterricht stehen, warum muss es dagegen sprechen? Denn in der Gruppe, wenn wir mit anderen zusammen durch den Ujaji rauschen und uns gemeinsam bewegen, dann kann das ganz vieles (lehrreiches, heilsames, etc) auslösen, was alleine üben – zumindest bei mir – so direkt nicht kann. Zum Beispiel das Gefühl von Gemeinschaft und Verbindung. Sich selbst einen Moment nicht so wichtig nehmen – oder sich wichtiger nehmen, je nachdem was man gerade braucht. Ich persönlich liebe, dass auf der Matte so unterschiedliche Menschen zusammentreffen und die Unterschiede spätestens im Herabschauenden Hund völlig unwichtig sind, weil alle eine Erfahrung mit sich machen, ob im Handstand oder in der Kindeshaltung, ob mit oder auch mal ohne Puste: Wir üben doch alle und wir sind alle nicht perfekt! Vielleicht hatte ich Glück und hatte nur tolle Yogalehrer, doch ich bin es aus Gruppenunterricht gewohnt, dass der Fokus auf achtsames und liebevolles Üben und nicht auf „Mithalten“ liegt – doch auch das Nicht-Mithalten-Wollen ist doch eine Praxis, die Zeit und Erfahrung und Empathie braucht.

    Um es an einem anderen Beispiel zu verdeutlichen: Es ist eine Unterschied, ob ich alleine zuhause singe oder mit anderen gemeinsam, ja! Beides gleichwertig schöne und wichtige Erfahrungen, nicht?

  4. Liebe Adrienn,
    danke für Deinen Artikel, Du sprichst mir aus dem Herzen.
    Ich unterrichte in kleinen Gruppen, da ich sonst das Gefühl habe, den einzelnen Menschen mit seinem Bedürfnissen gar nicht wahrnehmen und unterstützen zu können. Hab Deinen Artiekl gleich bei Facebook verlinkt, damit ihn möglich viele lesen.
    Herzliche Grüße
    Manuela

  5. Liebe Adrienn,
    du sprichst mir aus der Seele. Ich praktiziere und unterrichte und war lange mit mir am Hadern, bis ich festgestellt habe, dass ich selbst einfach am besten auf meine Bedürfnisse eingehen kann. Ich frage meine Yogis regelmäßig nach Wünschen und bin immer für Adaption und Anpassung. Ganz im Sinne von Krishnamacharya. Aber ja: Je mehr Schüler, desto herausfordernder. Homogene Gruppen bilden ist eine Möglichkeit und eben die Yogis immer wieder anleiten zum Erspüren einer stimmigen Form. Ich biete grundsätzlich viele Variationen an, nehme auch mich als Bsp. im Sinne von: „Auch ein Lehrer hat seine BEsonderheiten. Das ist völlig „normal“.. Aber was erzähl ich dir hier? :D Wie auch immer: Du hast meinen Nerv getroffen! Danke und alles Liebe

  6. Guter Artikel und etwas, das ich auch schon seit längerem predige… Ich habe meinen Unterricht angepasst, damit jeder individuell für sich üben kann und empfehle jedem auch eine regelmäßige Praxis zu Hause zu etablieren.

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