Ganesh Mohan: “Viele wollen zu schnell zu tief“

Manchmal föhnt einen das Leben um.

In solchen Momenten brauchst du keine Phrasen, standardisiertes Zeug oder gar Ratschläge. In solchen Momenten willst du gesehen werden, mit deiner ganzen Verletzlichkeit und mit dem, was du brauchst.

Wenn du schluchzend am Meer sitzt und deinen Schmerz in die Wellen schreist. Das ganz normale menschliche Drama. Alltägliches Leid. Nichts Besonderes. Vielleicht ordentlicher Liebeskummer oder wenn du jemanden verlierst.

Ich persönlich kann es nicht mehr hören, wenn jemand sagt, das sei nur dein Ego.

Du selbst würdest gar nicht leiden, das wären nur deine enttäuschten Erwartungen. Ich finde: Was hilft, ist Verbindung und Verständnis, In solchen Momenten willst du in den Arm genommen werden von einem Freund, jemandem, der ohne Worte versteht.

Nur was hat das mit Yoga zu tun?

Yogalehrer*innen können in solchen Situationen – wenn auch in distanzierterer Form – Menschen sein, die einen Raum schaffen, in dem du gesehen und gehalten wirst. Sie können dir zuhören und dich unterstützen.

Yoga kann zwar nicht alles heilen, es gibt aber Elemente aus dem Yoga, die man im Alltag üben kann, um in Krisen besser klar zu kommen.

Da ich mir über diese Dinge gerne den Kopf zerbreche, habe dazu meinen Lehrer Ganesh Mohan befragt.

Er kennt sich gut aus mit der intensiven Praxis. Ganesh Mohan lernt seit der Kindheit Yoga und andere damit verwandte traditionelle Lehren. Er ist der Sohn von A.G. Mohan (einer der drei Langzeitschüler von Krishnamacharya, dem Urvater des modernen Yoga) und Indra Mohan, die ihren Mann auf jedem Schritt seiner Yoga-Reise begleitet hat.

Ganesh ist Arzt, ausgebildet in moderner (westlicher) Schulmedizin und auch im Ayurveda. Er hat mit seinem Vater zusammen mehrere Bücher geschrieben, darunter Krishnamacharya: His Life and Teachings und Yoga Reminder.

Die ganze Familie Mohan arbeitet im Yoga. Ganesh ist spezialisiert auf Yogatherapie. Zusätzlich unterrichtet Ganesh Teacher Trainings, bei denen Yoga-Philosophie in Kombination mit funktionalem Üben von Asana und alltagstauglichem Wissen aus dem Ayurveda im Mittelpunkt steht.

Ganesh, wenn ich schon eine Weile Yoga Asana praktiziere, wie kann ich tiefer gehen?

Etabliere dein eigenes Üben. Alleine zu Hause. Verbringe ein bisschen Zeit damit, auf deinen Körper und deinen Geist zu hören. Beweg dich, atme und zwar ohne Anleitung, ohne einen Menschen, der dir sagt, was du machen sollst.

Und woher weiß ich, was ich üben soll?

Das muss dir jemand beibringen (lacht). Dafür sind Lehrer da. Lehrer sollen die Schüler unabhängig machen. Schüler sollten in der Lage sein, selbst zu üben, nachdem sie eine Weile gelernt haben. Auf diese Weise hat mein Vater (Anm. d. Autorin: A.G. Mohan) bei Krishnamacharya gelernt. Er hatte einmal die Woche Einzelunterricht bei ihm. Aber dann hat mein Vater hauptsächlich zu Hause geübt. Jeden Tag.

Ohne einen Lehrer wie Krishnamacharya – woher weiß ich, was ich zum Beispiel bei Liebeskummer üben soll?

Das erfordert eine persönliche Beratung. Solche Probleme besprechen die Schüler nicht in der Gruppe. Aber hier spielt mit rein, in welchem Format Yoga aktuell geliefert wird. Dass wir als Lehrer fast immer Gruppen unterrichten, zu einer konkreten Zeit, in einem festen Format.

Schüler brauchen einen Lehrer, mit dem sie reden können. Und sie brauchen eine Beziehung zu dem Lehrer. Dann arbeiten sie Stück für Stück an ihren Themen. Das ist nicht überraschend, so funktioniert das auch in anderen Beziehungen, nicht wahr? Egal, ob mit dem Physiotherapeut oder dem Psychologen. Der Therapeut oder Lehrer schaut erst, wie ein entspannter Umgang miteinander möglich ist, redet mit den Klienten oder Schülern. Sieht sich an, was sie brauchen und arbeitet von da aus.

Yoga ist nicht anders. Da geht es auch um Transformation. Wichtig dabei ist, dass die Person das Gefühl hat, gehört zu werden: Was brauche ich und was soll ich machen? Solchen Sachen können nicht an 20 andere Leute zur gleichen Zeit adressiert sein.

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Adrienn mit ihrem Lehrer Ganesh Mohan

Woher weiß ich, ob ich einen guten Lehrer gefunden habe?

Du musst dich wohlfühlen mit dem Lehrer. Der Lehrer muss sich professionell verhalten und gute Grenzen haben. Was er oder sie erzählt, sollte für dich Sinn ergeben. Du brauchst, was du in jeder anderen Beziehung brauchst: Ein Gefühl von Sicherheit, Grenzen und Vertrauen. Und dann muss der Lehrer dich gut leiten können und er braucht Wissen. Fundierte Informationen, die auf deine Bedürfnisse zugeschnitten sind.

Als Schüler erwartet man das von einem Lehrer. Niemand hat alle Lösungen. Aber es ist die Rolle des Lehrers, sein Bestmögliches zu geben und zu versuchen, den Schülern zu helfen, so dass sie selbst an ihren Themen arbeiten können. Und sie in den Bereichen zu unterstützen, wo sie es selbst nicht können.

Es ist ein Prozess, alles ist ungewiss. Du musst als Schüler irgendwo anfangen und schauen, ob es mit diesem Lehrer funktioniert. Und wenn es nicht passt, dann musst du jemanden anderen finden. Da ist nichts Schlimmes dran. (lacht)

Aber wichtiger als alles andere: Frag dich selbst, ob das, was der Lehrer sagt und tut, sinnvoll ist. Vor allem jetzt im Yoga, wo es so viele Ideen gibt.

Was wenn ich überwältigt werde von Gefühlen, die durch irgendwas in der Praxis getriggert wurden. Wie kann ich damit umgehen?

Das ist ein großes Thema heutzutage. Es wird immer klarer, dass es viele Menschen mit Traumata gibt. Es gibt so viele ungünstige Erfahrungen aus der Kindheit, die das spätere Leben bestimmen.

Wenn man einen Haufen Leute nimmt und sie Übungen machen lässt, ist es unvermeidlich, dass jemand dabei sein wird, für den das nicht angenehm ist. Nicht angenehm, weil die Übungen oder Praktiken unbewusste Strukturen aus dem Körper und dem Geist zutage fördern aus der Vergangenheit, die man dann plötzlich bewusst erlebt.

Die einfachste Antwort:

Als Lehrer achte darauf, dass der Schüler sicher ist. Und als Schüler achte darauf, dass du dich sicher fühlst.

Und ganz wichtig nochmal für den Schüler: Geh von da weg! Halte nicht an einer Erfahrung fest, die dich triggert und sich unangenehm für dich anfühlt. Das führt normalerweise nicht in eine sinnvolle Richtung.

Aber was, wenn ich mich ein bisschen fordern will in meiner Yoga Praxis?

Es ist eine Sache sich herauszufordern. Es ist eine andere Sache, sich unwohl zu fühlen, während man das tut.

Dieses Problem kann nicht komplett vom Schüler oder vom Lehrer gelöst werden. Es muss zusammen gelöst werden. Aber es ist sehr wichtig, dass sich der Lehrer seiner Verantwortung bewusst ist, den Schüler darauf hinzuweisen, dass manche Praktiken ein Problem sein können.

Jemandem, der schon traumatisiert ist, die komplette Last aufzuladen und ihm zu sagen, es ist deine Verantwortung und wenn es dir nicht gut geht, dann musst du halt auf dich selbst achtgeben – ist nicht die richtige Art, wie ein Lehrer mit solchen Dingen umgehen sollte.

Ein Lehrer muss vor allem einen sicheren Raum schaffen. Optionen geben und die Leute dann selbst entscheiden lassen, ob sie etwas üben wollen oder nicht.

In Bezug auf Trauma ist bekannt: Je mehr du es triggerst ohne sicher und geerdet zu sein, desto mehr werden diese Pfade verstärkt.

Du kannst nicht aus dem Trauma herauskommen, indem du Trauma triggerst.

Du verwurzelst es noch tiefer in deinem Gehirn. Das kann passieren auch wenn der Lehrer die besten Absichten hat. Weil du kannst als Lehrer kaum irgendeine Erfahrung kontrollieren, die irgendjemand haben wird.

Wie bleibe ich sicher und stabil?

Am besten beginne, dich ein bisschen langsam zu bewegen und achtsam zu atmen. Deinen Körper fühlen, dich erden. Eine einfache Entspannungsübung: setz oder leg dich hin, fühl den Stuhl oder Boden, der dich trägt, lass den Körper weicher werden. Auch wenn du das nur ein paar Minuten übst.

Sei offen, beobachte, wie sich der Körper anfühlt. In kleinen Schritten.

Und dann später konzentriere dich auf Mitgefühl mit dir selbst. Sei nett zu dir selbst. „Kann ich wohlwollend zu meinem Körper sein, wohlwollend zu meinem Geist?“

Üblicherweise machst du dies zu einer Art Plattform für dein Üben. Diese kleinen Dinge übst du wieder und wieder. Sie werden dir helfen, dich zu stabilisieren – für was immer auch kommen mag in deinem Leben.

Von hier baust du allmählich weiter auf, Richtung mehr Bewegung, etwas längere Sequenzen im Sitzen, Achtsamkeit und dann weiter zu Bereichen, wo es um Gefühle geht: Übungen wie Dankbarkeit, Freude und Liebe. Diese kommen ein bisschen später. Manche sind körperbasiert, manche atembasiert. Manche Übungen, wie man mit negativen Gefühlen umgehen kann und einfache Affirmationen.

Probleme aus Traumata und Stress sind sowieso unvermeidlich. Der Idee des Yoga ist, zu lernen, wie wir sinnvoll damit umgehen können.

Und wie lange soll ich üben?

Fang an mit fünf bis zehn Minuten – so lange, wie es sich für dich sicher anfühlt. Und dann allmählich weitest du aus auf 15 bis 20 Minuten. Wenn Gefühle hochkommen, kannst du dir sagen: Es ist ok. Emotionen werden auftauchen, aber sie werden auch wieder vorbeigehen.

Und übe über den Tag verteilt – zwei Minuten hier, zwei Minuten da. Immer weiter. Bis es sich für dich natürlich anfühlt, diese Übungen zu machen. Bis du allmählich selbst erfährst, dass diese Übungen dich stabilisieren.

Es ist simpel, aber es ist nicht einfach. Aber auch nicht so schwer.

Was, wenn ich schon achtsam übe und trotzdem intensive Gefühle hochkommen, die mich überwältigen?

Normalerweise sollte das nicht passieren, außer du ziehst deine Wahrnehmung zu tief nach Innen. Dann ist es meistens gut, deine Augen zu öffnen. Fühle die Erde unter dir, beginne aufzustehen, bewege dich ein bisschen, komm mit deiner Wahrnehmung nach außen, weg von diesen Gefühlen. Und dann komm wieder ins Üben.

Falls deine Praxis solche Gefühle oder Wahrnehmungen triggert, dann ist es nicht die Praxis, die du brauchst. Dann brauchst du vielleicht etwas anderes, wie zum Beispiel ein Mantra. Chante das Mantra dann für eine Weile. Oder bewege dich ein bisschen mehr statt still zu sitzen und so viel zu fühlen.

Das Problem ist:

Wenn wir anfangen, bewusst zu werden, dann kommen auch vorher unbewusste Erfahrungen in unser Bewusstsein.

Wenn du anfängst, wahrzunehmen, wie du atmest und wie du dich bewegst, dann können auch Gefühle hochkommen.

Mein Punkt ist: Geh nicht so schnell so tief.Mach es in kleineren Dosen. Üb dich darin, dich allmählich immer mehr zu stabilisieren und erlaube den Gefühlen und Wahrnehmungen vorbei zu ziehen.

Oft passieren diese Dinge, weil viele zu schnell zu tief gehen wollen. Sie sitzen in Meditation, sie erlauben sich, komplett absorbiert zu werden in manchen Erfahrungen – und dann kommt irgendwas hoch.

Yoga zu üben ist ein langsamer Prozess. Und wir sind meist in Eile. Deswegen tendieren wir dazu, zu viel zu schnell zu machen. Aber dann lernen wir unsere Grenzen kennen. Weiter gehe ich nicht. Ich sitze nicht ganz so lang. Wenn ich beginne, mich unwohl zu fühlen, dann stehe ich auf und bewege mich, ich mache meine Augen auf, ich nehme ein paar tiefe Atemzüge, ich sage mir ein paar Affirmationen in meinem Geist.

Das ist eine Lernkurve, für jeden von uns. Und für jeden unterschiedlich.

Du sagst, wir sollen während des Tages üben…. Im Büro?

Was am Büro halt dich davon ab, diese Dinge zu üben? Außer, dass du da vielleicht mehr gestresst bist. Also, dann solltest du sie erst Recht üben.

Zum Schluss noch ein paar Lesetipps:

Quelle Titelbild: Network Yoga Therapy

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