Brauchen wir Gurus und wenn ja, wozu?

The conscious within you is the Guru. The one that guides you, the one that enlightens you. And such, there is a Guru in everybody, singt die spirituelle Künstlerin Donna De Lory in Guru Om, einem ziemlich schwülstigen Song, über den ich mich aber immer freue, wenn er mir in einer Yoga-Playlist begegnet. Eben weil Donna den Song so inbrünstig aus tiefstem Herzen schmettert.

Über die Guru-Frage zerbreche ich mir seit Langem dem Kopf: Brauchen wir Gurus, um auf dem spirituellen Weg voranzukommen?

Auf der einen Seite gefällt mir die romantisch-kindliche Vorstellung eines klassischen Gurus: Dass es in meinem Leben jemanden gibt, der mir meine Fragen zum Sinn des Lebens beantwortet, seine Weisheit mit mir teilt und mir auf liebevolle Weise jede Menge Aha-Momente verschafft. Jemanden, dem ich mich dann in vollster Hingabe vor die Füße werfen und in tiefer Dankbarkeit versinken kann. Es heißt, man muss weinen, wenn man seinem Guru trifft. Zumindest sind so die Geschichten von großen spirituellen Lehrer*innen, die gerne mit verliebtem Blick von der ersten Begegnung mit ihrem*r Meister*in sprechen.

Das hätte ich auch gerne. In Ansätzen kann ich dieses Gefühl sogar nachvollziehen: Ich habe auch schon Lehrer*innen getroffen, die mich tief im Herzen berührt haben und etwas in mir ausgelöst haben, was ich auf rationaler Ebene nicht erklären kann.

Doch dem*der Bilderbuch-Guru, wie ich sie aus Geschichten kenne, bin ich noch nicht begegnet. Ich bezweifle auch, dass das mir als westlich sozialisierte, kritisch denkende Feministin noch passieren wird. Meistens schaue ich die Meister*innen an und frage mich, ob das jetzt Machtmissbrauch oder echte Spiritualität ist. Und auch, ob die Follower*innen nicht vielleicht doch einen an der Marmel haben.

Lesetipp: Sonntag mit Sadhguru. Oder: Warum man meine Meinung nicht kaufen kann

Zurück auf Null: Was bedeutet Guru eigentlich?

Das Wort Guru kommt aus dem Sanskrit. Gu heißt Dunkelheit oder Unwissenheit und ru bedeutet zerstreuen oder entfernen. Guru ist also das, was Licht ins Dunkel bringt. Auch wenn Guru häufig in Form eines Menschen in unser Leben kommt, meint das Wort Guru das Erleuchtungsprinzip, das in Allem und Jedem vorhanden ist.

In anderen Worten: Der Auslöser, im übertragenen Sinne das Licht anzuknipsen und klarer zu sehen, ist überall. Dafür musst du nicht in die Yogastunde oder gar nach Indien reisen, um einen großen Guru zu besuchen. Alles und jede*r, was dir hilft, in Kontakt mit deiner Essenz zu kommen, die Stimme deiner Seele zu hören oder Gedankenchaos zu entwirren, kann Guru sein.

Sind Gurus nicht mehr zeitgemäß?

Kundalini Yogis in der Tradition von Yogi Bhajan betonen immer wieder: Gurus im Außen sind Teil des Fische-Zeitalters. Inzwischen befinden wir uns im Wassermannzeitalter, indem wir selbst ganz direkten Zugang zu allen möglichen Informationen haben. Google ist das beste Beispiel. Dadurch, dass Wissen ständig und überall verfügbar ist, verliert es an Macht. An diese Stelle tritt die Erfahrung. Dazu später aber noch mehr.

Für das Konzept des Gurus bedeutet das, dass wir zwar Lehrer im Außen brauchen, die uns helfend beiseite stehen, dass wir den Guru aber erfahren müssen.

Ein Blick in die Yogawelt bestätigt diese These: Die großen Yoga-Meister Sri K. Pattabhi Jois und B.K.S. Iyengar haben die Erde verlassen und leere Throne hinterlassen. An ihre Stelle getreten sind nicht einzelne Lichtfiguren, sondern viele: Yoga- und Meditationslehrer*innen, Heiler*innen, Schaman*innen, Therapeut*innen und andere light workers, die den Guru-Kult immer weniger zelebrieren.

Anstelle den Guru-Kult weiter zu zelebrieren, eröffnen sie viele verschiedene Formen der Selbsterfahrung, die inzwischen nicht mehr nur für eine spirituelle Elite, sondern auch für die breite Masse zugänglich sind. Immer mehr Menschen finden halt in einem ganz individuellen Glauben und passende Möglichkeiten ihr Bedürfnis nach Verbundenheit mit der universellen Energie auszudrücken.

Lesetipp: Kulturelle Aneignung: Haben wir Indien Yoga geklaut? 

In den letzten Jahren wurden auch immer mehr Geschichten von Machtmissbrauch und kriminellem Verhalten durch bekannte Yoga-Gurus öffentlich.

Pattabhi Jois, der Begründer des Ashtanga Yoga, Yogi Bhajan, eine schillernde Figur der Kundalini Yoga Tradition, Bikram Choudhury, der Mann, der Hot Yoga als Bikram Yoga berühmt gemacht hat, um einige der alten Gurus zu nennen. Aber auch gegen John Friend, den Vater des Anusara Yoga und einige mehr oder weniger berühmte, kleinen Gurus der heutigen Yogawelt wurden in der Vergangenheit Missbrauchsvorwürfe laut oder Urteile verhängt. Ich kann hier nicht mal alle aufzählen. Es sind zu viele.

Diese vielen Fälle sind ein klares und gleichzeitig tragisches Zeichen dafür, dass Machthaben auch zum Machtmissbrauchen einlädt. Insofern drängt sich mir die Frage auf:

Schadet das Guru-System mehr als es bringt?

Und wer bringt den Gurus eigentlich bei, wie man ein vernünftiger Guru ist? Sind Strukturen, die auf so eindeutigen Hierarchien basieren sinnvoll? Und überhaupt noch zeitgemäß? Eine*r ganz oben hat viel Macht und Einfluss und die Anhänger*innen sollen brav folgen? Alles Ideen, die meinem persönlichen Werteverständnis widersprechen.

Sind wir alle also unsere eigenen Gurus?

Ein weiterer Spruch, den man in der Yoga- und Spiriwelt oft findet ist: You are your own guru. Oft wird er von jungen, weißen, westlichen Frauen verwendet, die sich lieber auf die eigene Intuition als solide Ausbildungen verlassen, die gerne dem kalten deutschen Winter in Richtung Bali entfliehen, teure Yoga-Leggings tragen und sich ihr perfektes Leben einfach so manifestieren können (bitte verzeiht mir den Sarkasmus). Die Idee, selbst am besten zu wissen, was gut für einen ist, unterstütze ich zu 100 Prozent. Ich glaube jedoch, nicht, dass man sich selbst ein*e Guru sein kann.

Wir alle haben unsere dunklen Spots. Erfahrungen, Erlebnisse und Wunden, die fest verschüttet in den hintersten Ecken unseres Bewusstseins schlummern.

Solche Themen manifestieren sich oft als Verhaltensmuster, aus denen wir einfach nicht rauskommen. Sie begegnen uns in Form von immer wiederkehrenden Streits, Konflikten oder Hürden, die unüberwindbar scheinen.

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Wer – egal ob auf dem spirituellen Weg oder mit good old Selbsterfahrung – beginnt, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen, wird früher oder später den eigenen Dämonen begegnen.

Und das ist der Punkt, an dem wir guru brauchen. Jemanden, der*die uns begleitet.

In dem Prozess, die alten Kisten auszupacken, das Erlebte zu betrauern und zu verarbeiten, um dann wirklich aus Strukturen auszubrechen, die uns nicht mehr dienen, können uns Lehrer*innen nicht nur beiseite stehen. Sie können den Wandel auch unterstützen, indem sie uns immer wieder ein Spiegel sind. Für unsere Gedanken, Gefühle und unser Verhalten. Menschen, die an unserem Glück interessiert sind, ohne dabei ein eigenes Interesse zu verfolgen.

Wir Menschen lernen von Vorbildern. Von anderen, die den Weg vielleicht schon ein bisschen weiter gegangen sind als wir. Das Gefühl, eine Antwort auf eine brennende Frage zu bekommen, Verständnis entgegengebracht zu bekommen ist großartig.

Ob dein Vorbilds-Spiegel nun deine beste Freundin, dein Psychotherapeut oder eine spirituelle Lehrerin im weißen Gewand ist, ist dabei nicht so wichtig. Hauptsache er oder sie bringt Licht ins Dunkel.

Eigene Erfahrungen sind der einzig wahre Guru.

Das Licht können wir am Ende nur in uns selbst finden. Das ist es übrigens auch, was die yogischen Schriften sagen. Das Guru-Prinzip wurde jedoch häufig missverstanden. Auf der einen Seite, um Macht auszuüben. Auf der anderen, um jede Eigenverantwortung von sich zu weisen. Aufgedrücktes Guru-Theater halte ich für genauso wenig zielführend wie unreflektiertes Folgen oder die Annahme, die Weisheit selbst mit dem Löffel gefressen zu haben: Das einzige, worum es wirklich geht, sind unsere eigenen Erfahrungen.

Alles andere sind Worte, Geschichten und Konzepte. Manchmal brauchen wir die auf unserem Weg, um überhaupt eine Richtung zu haben. Wenn dann jemand, zur richtigen Zeit den richtigen Stupser in die richtige Richtung gibt, kommt der Impuls, sich vor der Person tief verbeugen zu wollen, von ganz alleine.

Der Schlüssel liegt darin, in höchstem Maße ehrlich zu sein.

Zu seinen Lehrer*innen und vor allem zu sich selbst. Denn ein*e Guru ist nur dann ein* gute*r Guru, wenn er*sie dich näher zu deiner eigenen innersten Wahrheit bringt, nicht wenn er dich davon entfernt.

Der höchste Zustand jeder spirituellen Praxis ist der Zustand der absoluten Authentizität. Und nicht „das ist, wie ich handeln und aussehen muss, wenn ich eine spirituelle Person bin.
(Teal Swan)

Ich bin gespannt, was du zur Guru-Frage zu sagen hast. Erzähl es mir in den Kommentaren!

8 Kommentare / Schreibe einen Kommentar

  1. Ich habe das Gefühl, dass Sie sich noch sehr von Ihrem Verstand leiten lassen und hieraus logische Schlussfolgerungen ziehen, die sie auf ihrem spirituellen Weg nicht weiterkommen lassen. Eine Unterweisung unter einem wahrem Guru, kann sehr viel innere Energie freisetzen, da es aber nur sehr wenige von Ihnen gibt ( es müssen nicht immer Inder sein!), empfehle ich Ihnen Kriya Yoga auszuprobieren und in diesem Yoga Fortschritte zu erzielen.
    Falls ich mit meinem Gefühl falsch liege und sie meine Empfehlungals hochnäsig empfinden, tut es mir leid. Weiterhin viel Erfolg auf der inneren Suche nach sich selbst :)
    LG Mayuran

  2. Auch ich habe mich neulich die Frage gestellt, ob wir eigentlich einen Guru brauchen. Und ich kam zu dem Schluss, dass Guru ein selbständiges Denken töten kann. Aus diesem Grund bin ich gegen alle Gurus.

  3. Hallo Rebecca!

    Sehr schöner Beitrag, find ich toll! :) Es stimmt wirklich, die Antwort liegt letztendlich in einem selbst. Ich hab seit kurzer Zeit das Problem, dass ich überall Informationen, Anleitungen und Ideen suche und aufsauge um endlich eine Lösung für meine Situation zu finden. Um endlich sagen zu können:“ DAS muss ich machen.“ Es war richtig energieraubend. Ich wusste zwar, dass es nicht die eine Lösung auf dem Präsentierteller iwo gibt, aber ich hab nach Denkanstößen gesucht. Gestern hab ich dann das Buch „Die Heilkraft buddhistischer Psychologie“ von Thich Nhat Hanh angefangen zu lesen und da ist mir das Licht aufgegangen. Denn er hat gesagt, dass man dieses Buch nicht als Idee oder neue Vorstellung hernehmen soll, das Buch dient dazu um FREI von Ideen und Vorstellungen zu werden, denn letztendlich die Wahrheit liegt in einem selbst. Das hat sich sofort so erleichternd angefühlt. Bewusstheit und Achtsamkeit ist so wichtig. Und deswegen fang ich jetzt wieder zum Meditieren an und es fühlt sich so gut an! Und jetzt les ich diesen Beitrag von dir, der auf das ähnliche hinausläuft :D vielen Dank!

    Schönen Tag wünsch ich!

    Hugs,
    Linda

  4. Braucht man einen Guru? Das ist genau die Frage, die ich mir in letzter Zeit auch oft gestellt habe. Ich hänge auch immer noch der romantischen Vorstellung nach, irgendwo in Indien, tief im Himalaya DEN einen Guru zu finden. Aber warum kann eigentlich nicht auch der Kiosk-Verkäufer an der Ecke, deine beste Freundin oder dein Hund der Guru sein? :)

    1. Das liegt vermutlich daran, dass Du dem Äusseren Sinnen (Reizen) mehr Vertrauen schenkst als Deinen eigenen Inneren Gefühlen.

    2. Ich frage mich halt immer: Wer soll denn dieser Guru sein? Der eine, weise. Bei mir setzten viele AHA-Erlebnisse ein, als ich aufgehört habe, nach dieser Figur zu suchen und mich für die Magic im Alltag zu öffnen.

  5. Sehr gut durchleuchtet das ganze Thema und ich kann nur bekräftigen, dass ich es ganz genauso sehe. Find your inner Guru! Dabei helfen können verschiedene Praktiken und Menschen.

    Danke, für diesen Artikel! Der beste, den ich in letzter Zeit so gelesen habe

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